TÜBINGEN. Der Wald ist der Sehnsuchtsort der Deutschen. Dass er sich auch als Bühne eignet, ist eine relativ neue Idee, die sich der Tübinger Tänzer, Zirkuskünstler, Baumkletterer und Choreograf Jakob Jautz zu eigen gemacht hat. »Traces« heißt seine Performance, die am Freitagabend im Kirnbachtal Premiere hatte.
Spuren (englisch »traces«) sind es, die er im Wald ausgelegt hat und denen die rund 20 Zuschauer folgen. »O wie schön ist deine Welt, / Vater, wenn sie golden strahlet!« Mit diesem Schubert-Lied intoniert er sein Thema, nicht ohne etwas Wasser in den Wein zu schütten: »Aber unsicher ist sie auch!« Sagt’s und plötzlich rasseln dicht neben ihm Zweige auf den Boden und er stolpert über einen umgefallenen Stamm. »Nevertheless very beautyfull here!« Trotzdem schön hier.
Traumverloren tänzelt er durch den Wald, legt seine Hand auf die Rinde eines alten Baumes und philosophiert: »If I touch something, something touches me.« (Wenn ich etwas berühre, berührt es mich.) Alles ist eins – soweit die Botschaft, die die Zuschauer durch die kommenden 90 Minuten tragen wird. »From down to up I grew und I always will be all.« (Von unten wuchs ich und werde immer alles sein.) Sagt’s und ist vom einen Moment auf den nächsten im Wald verschwunden.
Grüne Ahornblätter leiten das Publikum zur nächsten Station, einem Schild, das von einem Zweig baumelt: »Wann haben Sie zum letzten Mal gefühlt, ein Baum würde sich bewegen?« Dann ein Foto von Totholz und ein Schild: »Wann haben Sie das letzte Mal gerochen, wie das Wasser wechselt?« Damit ist das nächste Thema des Abends klar: Der Verlust der Natur in uns und um uns, unsere Unfähigkeit die Alleinheit zu fühlen.
Mit verbundenen Augen klettert, nein tanzt Jautz den Stamm einer jungen Buche hinauf, artistisch, geschmeidig, Seilklettertechnik als Tanzkunst. Dem Publikum stockt der Atem, als er sich von Ast zu Ast wieder herunterfallen lässt. Dann windet er sich über den Waldboden, kauert sich zusammen, reckt sich nach oben – ein Beispiel für Contemporary Dance, in seinem Fall stark von Elementen asiatischer Kampfkunst inspiriert.
Über Stock und Stein
Weiter geht es den steilen Hang hinauf. Der schmale Trampelpfad hat sich mittlerweile im Unterholz verloren. Manchen Zuschauern fällt es leicht, über Stock und Stein zu springen, andere müssen sich redlich mühen, aber alle folgen den Spuren, die Jakob Jautz im Kirnbachtal ausgelegt hat. Schweigend tastet sich die Gruppe voran, achtsam, ein meditativer Waldspaziergang, der zur Reflektion über Mensch und Welt anregt. Dann hüpft Jautz durchs Unterholz wie ein scheues Reh, plötzlich ist er weg, die Zuschauer sind ratlos. Schließlich sehen sie ihn im nächsten Baum hängen und dozieren: »Bäume erreichen ihr Höchstalter, wenn sie in einem langsam wachsenden, artenreichen und gesunden Wald stehen – warum es so ist, weiß ich nicht.«
Dann kauert er am Boden und schaut durch einen Holzring: »Dieses Stück Holz war einmal ein Baum. Hier war der Stamm und hier waren die Wurzeln. Der Stamm ist zu Erde geworden, trotzdem wächst er noch weiter.« Er zeigt auf den Stumpf eines gefällten Baumes, aus dessen Rand neue Zweige sprießen.
Schließlich bekommt auch das Publikum noch etwas zu tun: In drei Gruppen verteilt soll es Objekte suchen, die nicht in den Wald gehören. Diese stellen sich als Dias von toten Pflanzen heraus. Auf den Rahmen sind Tränen beschrieben: Tränen über das Verschwinden der Natur, die am Ende in einem Korb gesammelt werden. Und um das Publikum nicht allzu traurig aus diesem immer noch schönen und vitalen Wald zu verabschieden, lässt er noch einen Funken Hoffnung durch die Blätter schimmern: »Let’s get rid of all the sadness!« (GEA)