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Nacktheit als Freiheitsgeste: »Sancta« an der Stuttgarter Oper

Florentina Holzingers Performance »Sancta« hatte im Stuttgarter Opernhaus Premiere. Sie konfrontiert auf der Bühne Religion und Sexualität und verwendet Nacktheit als Ausdrucksmittel.

Das Heilige und das Erotische: Szene aus Florentina Holzingers Performance »Sancta« an der Stuttgarter Oper
Das Heilige und das Erotische: Szene aus Florentina Holzingers Performance »Sancta« an der Stuttgarter Oper Foto: Matthias Baus
Das Heilige und das Erotische: Szene aus Florentina Holzingers Performance »Sancta« an der Stuttgarter Oper
Foto: Matthias Baus

STUTTGART. Adam hängt nackt in seiner Höhenhängematte, als er von Eva einen Apfel verlangt, den sie ihm nur dank Räuberleiter zureichen kann. Peng! Sofort kracht der Verdammungsspruch Gottes auf sie nieder – hingedonnert von der kleinwüchsigen Schauspielerin Saioa Alvarez Ruiz in Papstmontur, die vom Arm eines Roboterkranes gehalten wird. Ja, Eva, böses Weib: verführte Adam, muss zur Strafe ab jetzt unter Schmerzen gebären, sich dem Mann unterwerfen.

Teils geht es recht akrobatisch zu: Eva reicht Adam den Apfel an.
Teils geht es recht akrobatisch zu: Eva reicht Adam den Apfel an. Foto: Matthias Baus
Teils geht es recht akrobatisch zu: Eva reicht Adam den Apfel an.
Foto: Matthias Baus

Das ist halt Florentina Holzingers Humor: Die Vertreibung aus dem Paradies als lächerliche Willkür zu entlarven und gleichzeitig das eigene Tun auf die Schippe zu nehmen. Adam findet seine Nacktheit plötzlich peinlich, derweil es auf der Bühne munter weitergeht mit den nackten Frauenkörpern. Scham? Nein, es geht um Nacktheit als legere Freiheitsgeste wider die Körpernormen.

Es ist ein klasse Coup der Staatsoper Stuttgart, sich dem neuestem Projekt von Florentina Holzinger, die zu den prägenden Theatermacherinnen zählt, kooperativ angeschlossen zu haben. Nach Schwerin und den Wiener Festwochen durfte »Sancta« also jetzt in Stuttgart seine dritte Premiere feiern.

Skandalstück als Intro

Der Abend beginnt mit Paul Hindemiths Kurzoper »Sancta Susanna«. Sie wurde 1922 für die Stuttgarter Oper geschrieben, wo sie aber aus Skandalfurcht nie zur Aufführung kam. Darin geht’s um eine Gruselstory weiblicher Lustunterdrückung: Die junge Nonne Susanna wird sich ihrer sexuellen Begierden bewusst – mit katastrophalen Folgen.

Es ist Holzingers erste Oper, und sie setzt Hindemiths 25-minütigen Einakter, der als Intro zur folgenden Show dient, ohne viel Spektakel in Szene. Lediglich ein lesbisches, später an einem Riesenneonkreuz geschlechtsaktiv agierendes Liebespaar ist den singenden Darstellerinnen als Personal zur Seite gestellt. Gemeinsam mit dem Staatsorchester im Graben in der Leitung der Dirigentin Marit Strindlund und dem Frauenchor im Saal gelingt es Caroline Melzer als Susanna, Andrea Baker als Klementia und Emma Rothmann als Alte Nonne stringent, den komponierten, minuziös sich steigernden Klang-Orgasmus mit der nötigen Gewalt und ekstatischen Intensität zu Gehör zu bringen.

Witzig, brutal, sportlich

Was hier noch größtenteils der Fantasie überlassen wird, für das wird es später Bilder geben. Zwei Dutzend nackte oder teilbekleidete, ausschließlich weiblich Performerinnen, darunter auch Holzinger selbst, legen sich ins Zeug, um auf rauschhafte, witzige, tiefsinnige, platte, schockierende, brutale oder sportliche Weise dem Thema des Abends auf den Grund zu gehen: der unerträglich frauenfeindlichen Lehre der katholischen Kirche, ihrem völlig aus der Zeit gefallenen patriarchalen System, ihrem regressiven Umgang mit Sexualität. Mal wird das der Lächerlichkeit preisgegeben, mal in seiner Brutalität entlarvt, mal feministisch-utopisch umgedeutet. Jedenfalls in Gestalt einer performativen, mal trashigen, mal tiefsinnigen, stets unterhaltenden Bilderflut. Das Theater wird zur Kirche, in der Männer (zumindest auf der Bühne) keinen Platz haben.

Einlagen an der Kletterwand: Szene aus »Sancta«.
Einlagen an der Kletterwand: Szene aus »Sancta«. Foto: Matthias Baus
Einlagen an der Kletterwand: Szene aus »Sancta«.
Foto: Matthias Baus

Als Matrix der Show dient die Form der Messe. Es erklingen Messsätze von Bach, Rachmaninow und Gounod – für die Frauenstimmen des Staatsopernchors arrangiert, der in Nonnentracht auftritt, und mit Zwischenmusiken verbunden durch Zeitgenössisches: von schräg bis höllisch laut, von Pop bis Broadway, von Black Metal bis »It’s Raining Men«. Für visuelle Dauerdynamik sorgt die Halfpipe in der Mitte der Bühne, auf der Nonnen auf Rollschuhen Kunststücke zeigen. Dahinter eine große Kletterwand, die beeindruckende Bilder evoziert: Wenn dort blutberegnete nackte Frauenkörper in Kruzifixhaltung hängen. Oder Bauarbeiterinnen das projizierte Fresko »Die Erschaffung Adams« von Michelangelo mit Hämmern zerdeppern.

Martyrium live

Auch schön: Wenn vorne das letzte Abendmahl nachgestellt wird von lauter nackten Frauen, derweil eine Zauberin aus einer einzigen Rotweinflasche ein ganzes Dutzend macht. Kirchenfenster mit Eierstockmustern blinken auf. Ein mächtiges Weihrauchgefäß baumelt von der Decke und wird von zwei Performerinnen zum Schwingen gebracht. Eine Riesenglocke wird vom nackten Holzinger-Körper als Klöppel angegongt. Und nix für schwache Nerven: Frauen hängen sich an der Rückenhaut auf und klatschen gegen Donnerbleche. Martyrium live! Auch das Herausschneiden eines Hautfetzens vor Livekamera, der dann fürs Abendmahl gebrutzelt wird – das kannibalistische Ritual der Eucharistie hopsnehmend.

Horror und Comedy liegen bei Holzinger immer nah beieinander. Das gemeinsame Modellieren von Tonpenissen evoziert ein rhythmisches Stöhnkonzert. Und Jesus (Annina Machaz) verlangt als kiffender Fantast Eintritt ins Opernhaus, verteilt Autogramme und macht sich über Glaubensfragen lustig: »I love bleeding for you.« Das große Finale, das Sex und Liebe mit der Mitsinghymne »Dont’t dream it, be it« feiert, mündet in einen Begeisterungssturm. Kein Wunder, persifliert Holzinger hier doch den groovenden Erleuchtungsgesang von Gospelgottesdiensten – um alles wohlkalkuliert in Standing Ovations zu überführen. Raffiniert! (GEA)