ZÜRICH. Sie sei eine »zornige junge Frau« gewesen, die im Normalfall in einer Irrenanstalt gelandet wäre, schrieb Niki de Saint Phalle einmal. Ihre Rettung war die Kunst – nicht in Form einer Kunsttherapie, die darauf abzielte, seelische Konflikte durch ästhetische Sublimation zu entschärfen. Sondern in jenem Sinn, dass es der ehemaligen Klosterschülerin gelang, in ihren Bildern, Skulpturen und Assemblagen die eigenen Neurosen und Aggressionen auszuleben: sie zu objektivieren und dadurch in den Griff zu bekommen.
Vielleicht verdankt sich auch die ungeheure Vielseitigkeit und Produktivität dieser Künstlerin der Komplexität ihrer seelischer Konfliktlagen als einer Art kreativem Stachel. Ihr facettenreiches Werk zeigt in ganzer Bandbreite die Retrospektive im Kunsthaus Zürich. Die letzte von Kunsthaus-Direktor Christoph Becker kuratierte Ausstellung tourt im Anschluss zur Schirn Kunsthalle nach Frankfurt.
Mehr als bunte Frauenfiguren
Man würde Niki de Saint Phalle sicher nicht gerecht, reduzierte man ihre Kunst auf die heiter-beschwingten, knallbunten Nanas, die heute jedes Kind kennt und liebt. Natürlich begegnet man einer ganzen Reihe dieser häufig überlebensgroßen Skulpturen auch in Zürich. Da macht eine Nana im Badeanzug Kopfstand (»Nana rouge jambes en l’air«) – wobei der Kopf aufgrund des Körpergewichts, so die witzige Anmutung, im Zierkies versunken und die wohlbeleibte Figur jedenfalls erst vom Hals an sichtbar ist.
Eine zweite Nana mit schwarzer Haut aus Spiegel- und Keramikmosaik ist in tänzerischer Bewegung begriffen. Eine kleinfigurige Schwester hat die Gestalt einer »Sphinx« angenommen. Dass die drallen Damen allen Körperidealen ihrer Entstehungszeit fröhlich Hohn sprechen, darf man aus heutiger Sicht als Inklusionsleistung für eine gedankenlos diskriminierte Personengruppe würdigen – umso mehr, als es sich um Schöpfungen eines ehemaligen Models handelt, das als Covergirl für Modezeitschriften wie »Vogue« und »Harper’s Bazaar« posierte.
Als Malerin hatte Niki de Saint Phalle begonnen; ihre erste Ausstellung von Gemälden fand 1955 in einer Galerie in St. Gallen statt. Auch später pflegte sie enge Beziehungen zur Schweiz, wo sie zeitweilig lebte. Ein Gemälde von 1955 zeigt eine grotesk angehauchte »Classe de ballet«. »Joue avec moi« streift die Abstraktion.
Früh gewinnen die Bilder objektartigen Charakter. Indem Niki, Zeichen ihres Realitätshungers, Gegenstände wie Gefäßscherben und Steine oder alltägliche Gebrauchsdinge gleich Kamm und Spiegel, Straps und Spielzeugpistole in die Leinwand integriert, verwandeln die Gemälde sich in Materialbilder. In dieser Phase lernt Niki 1956 Jean Tinguely kennen, der »kinetische«, also bewegliche Skulpturen und Installationen schuf. Von 1961 an leben und arbeiten die beiden gemeinsam in der dann berühmt gewordenen Pariser Künstlerkolonie in der Impasse Ronsin, seit Brancusis Zeiten eine Brutstätte der künstlerischen Avantgarde. Sie heiraten 1971.
Aufsehen durch »Schießbilder«
Aufsehen erregt Niki 1961 mit ihren »Tirs« oder Schießbildern. In »Portrait of My Lover« ersetzte sie den Kopf der Figur durch eine Zielscheibe und ließ Besucher mit Dartpfeilen darauf zielen. In den »Tirs« arbeitete sie Farbbeutel und Dosen unter einer Schicht aus Gips ins Bild ein. Indem sie selbst und Freunde in Schießaktionen auf die Bilder anlegten, brachten sie diese bei Treffern zum »Bluten«.
In diesen Kunstaktionen, die sie an der Spitze der Avantgarde ihrer Zeit zeigen, eine frühe Form aggressiv-feministischer Kunst, nimmt Niki patriarchalische Machtstrukturen buchstäblich ins Fadenkreuz. Als eine Pionierin der Aktionskunst lud Pierre Restany – der Impresario der Künstlervereinigung der Nouveaux Réalistes, der auch Tinguely angehörte – sie als einzige Frau in den exklusiven Club der Pariser Avantgarde ein.
Zu den Nanas hatte Niki 1965 eine schwangere Freundin inspiriert. Keine Nana ist »Hon« von 1966 – dafür eine begehbare, zwölf Meter große liegende Frauenskulptur, die sie im Moderna Museet in Stockholm ausstellte. In Zürich präsent ist ein etwa lebensgroßes Modell der poppig-bunt bemalten »Hure«, wie Niki sie scherzhaft titulierte. 100 000 Museumsbesucher ließen es sich seinerzeit nicht nehmen, durch die Vulva der Figur das Körperinnere zu betreten.
Spektakuläre Außenarbeiten
Andere Monumentalskulpturen sind »Le Golem« auf einem Spielplatz in Jerusalem oder der »Tarotgarten« – eine Landschaft aus begehbaren Figuren in der Toskana, entstanden oder noch begonnen in den Siebzigerjahren. Auch einige Filme und Theaterstücke fallen in diese Zeit.
Bereits dem Spätwerk gehört »La Mariée à cheval« – »Die Braut zu Pferde« – von 1997 an: eine Schöpfung von barocker Üppigkeit, in dem aus Hunderten Objekten wie Spielzeugautos oder Tierfiguren zusammengesetzten lebensgroßen Pferd zugleich eine Metapher der Fülle. 1990 entsteht »Skull«, eine mit Spiegelglas überzogene begehbare Keramikskulptur – ein Totenschädel als Meditationsraum. In Zürich freilich ist der Zugang verboten.
Ein schöner Ausdruck der schamlosen Kühnheit dieser Künstlerin, die keine Tabus, zumal kein sexuelles gelten ließ, ist der über drei Meter hohe »Obélisque de miroirs«: Das mit Spiegelglas überzogene Objekt erinnert stark an ein erigiertes männliches Glied, das sie selbst ja auch im Namen führte. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »Niki de Saint Phalle« ist im Kunsthaus Zürich, Heimplatz 1, noch bis 8. Januar zu sehen. Geöffnet ist Dienstag und Freitag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch und Donnerstag 10 bis 20 Uhr. (GEA) www.kunsthaus.ch