REUTLINGEN. Eher selten sind Länder wie Indien, Kuba oder die Schweiz in Konzerten mit klassischer Musik vertreten. Doch für das erst vor einem Jahr gegründete Ensemble Vokalkunst gehören gerade solche Inhalte zu Programm und Prinzip. Wie auch schon der Name des 18-köpfigen Kammerchors unter der Leitung von Daniel Radde, Vokalkunst, hohen Anspruch an sich selbst erhebt. Ein Anspruch, der im fast vollbesetzten Reutlinger Spitalhofsaal erfüllt worden ist.
Hörbare Gestaltungstugenden schon im einleitenden »O Radiant Dawn«, ein Hymnus an die strahlende Morgenröte als Spenderin des ewigen Lichts aus der Feder von James MacMillan. Feinnervig wurde die Binnendynamik ausgesteuert. So ergaben sich nuancierte Stärkegrade in einem sich weitenden Spektrum zwischen zartem Pianissimo und markanten Akzenten, die sich in Zane Randall Stroopes Motette »Judaskuss« bis zum Schrei steigerten.
Verzweiflung und Selbsthass
Ohnehin war dieses Werk die beeindruckendste Komposition des Abends. Der 70 Jahre alte amerikanische Komponist verbindet Psalm-Texte mit zeitgenössischer Lyrik und präsentiert die neutestamentarische Geschichte in reicher Affekten-Vielfalt. Diese wird musikalisch plastisch umgesetzt. Da nimmt die Verzweiflung und der Selbsthass des Jesus-Verräters genauso Gestalt an wie das fast tonlos gestammelte »So I kissed him«, gefolgt von scharfen Sekund-Reibungen in den Frauenstimmen. Sie wurden dort genauso sicher platziert wie schon zuvor in Damijan Mocniks eindringlicher Anrufung an Jesus Christus als Erlöser. Bei den Männerstimmen war den Tenören der Affekt des Hämischen zugewiesen und den Bässen das Abgründige im Schlussvers »Ich ging und nahm den Strick«.
Radde und sein Ensemble loteten das Werk in all seinen Verästelungen aus. Ein Übriges tat die ausgeklügelte Lichtregie, welche hierzu den Chor in aggressives Rot tauchte. Bei Kristopher Fultons prägnant auf den Punkt gebrachter, rhythmisch triebkräftiger und heftig pulsierender Ode an den Feuergott Prometheus wechselte das Licht zu Orange, zu Flavio Bundis in rätoromanischer Sprache abgefasstem »Grond Silenzi« zu sonnengoldener Stimmung.
Geschärfte Dissonanz-Ballungen
Dieser Schweizer Komponist fasziniert mit der überzeugend zum Ausdruck gebrachten Ergriffenheit vor dem Erhabenen der göttlichen Schöpfung. Vom Chor verlangt er zartes Summen genauso wie Durchschlagskraft in allen Stimmgruppen, was vom Kammerchor Vokalkunst umfassend realisiert worden ist. Vergleichbares gibt es von John Trottas Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen »Dies irae«-Sequenz zu berichten. Die geschärften Dissonanz-Ballungen wurden gleichermaßen zu Klang wie die sanft-akkordisch grundierte Hoffnung auf Erlösung.
Gemessen an solch einem Stück war der kompositorische Beitrag aus Kuba ungeachtet seiner schönstimmigen Ausführung durch Vokalkunst zu schlicht. Glaubt man dem Text, geht es in Beatriz Coronas »Penas« um den Schmerz über Sklaverei und Unterdrückung sowie die Hoffnung auf Freiheit. Melodienseligkeit bei einer erstaunlich gefälligen Harmonik verwundern hierfür. Künstlerisch sublimierte Schlichtheit geht anders, wie es etwa Howard Skempton in »More Sweet Than My Refrain« ausgedrückt hat, ohne ins Süßlich-Naive abzudriften. Daniel Raddes Chor bestach dabei durch seine ausgezeichnete Pianokultur.
Beitrag aus Indien
Den Beitrag aus Indien steuerte die 1966 geborene Komponistin Shruthi Rajasekar mit ihrem Stück »Numbers« bei. In der Struktur ihres Stücks verband sie unser übliches Dezimalsystem mit dem babylonischen Sechziger-System und dem binären, auf 0 und 1 basierenden, und zeigte, wie auch in einem wort-ungebundenen Chorstück Klangsinnlichkeit alleine durch die geradezu perkussive Artikulation von Ziffern entstehen kann. Freilich braucht es auch dafür ein Ensemble, das neben hoher Musikalität Freude an musikalischer Ironie hat. Professionalität in den verschiedenen Stilrichtungen ist eben ein Markenzeichen von »Vokalkunst«. (GEA)