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Melancholischer Blick auf Natur: Schriftsteller W. G. Sebald wäre 80 geworden

Die Natur spielte eine große Rolle im Schaffen von W. G. Sebald, und ein melancholischer Blick auf die Welt. Der Schriftsteller, der vor allem im englischen Sprachraum gefeiert wurde und 2001 bei einem Autounfall starb, wäre jetzt 80 Jahre alt geworden.

Die Natur vor seinem Fenster in Didsbury bei Manchester faszinierte Sebald.
Die Natur vor seinem Fenster in Didsbury bei Manchester faszinierte Sebald. Foto: Reinbert Tabbert
Die Natur vor seinem Fenster in Didsbury bei Manchester faszinierte Sebald.
Foto: Reinbert Tabbert

MANCHESTER. Der Schriftsteller W. G. Sebald, der 1944 in Wertach im Allgäu geboren wurde, wäre an diesem Samstag, 18. Mai, 80 Jahre alt geworden. Schon 2001 hat ein Autounfall nahe der englischen Stadt Norwich, dem Ort seiner Tätigkeit als Germanistikprofessor, seinem Leben ein jähes Ende gesetzt. Zeitlebens hat die Prägung durch die Naturnähe und das religiöse Milieu seiner frühen Jahre in Wertach bei Sebald nachgewirkt. Bemerkenswert, dass er sich in der zweiten Hälfte seines Lebens in einem aufgelassenen ostenglischen Pfarrhaus mit ausgedehntem Garten eingerichtet hat.

Mehr zu W. G. Sebald

Wer mehr über Leben und Werk W. G. Sebalds wissen möchte, sei auf eine lesenswerte Biografie hingewiesen: Carole Angier: »W. G. Sebald. Nach der Stille«, Hanser Verlag 2022 (zuerst auf Englisch: »Speak Silence. In Search of W. G. Sebald«, Bloomsbury 2021). Eine Ausstellung zu Leben und Werk konnte ich 2004 in der Reutlinger Stadtbibliothek zeigen. Die umfassende Ausstellung »Wandernde Schatten« über Sebald zeigte 2008 das Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar. Im benachbarten Deutschen Literaturarchiv befindet sich Sebalds Nachlass. (GEA)

Ich hatte das Glück, im akademischen Jahr 1966/67 Lektorenkollege Sebalds an der Universität Manchester zu sein und sechs Monate in dem ländlichen Vorort Didsbury Zimmer an Zimmer mit ihm zu wohnen. In dieser Zeit hat er sein erstes Prosamanuskript verfasst, für das er aber keinen Verleger fand. Viele Jahre und viele literaturwissenschaftliche Arbeiten später begann dann mit »Schwindel. Gefühle« (1990) seine Karriere als Prosaschriftsteller. Vorgestellt hat er dieses Buch auch in Reutlingen. Die nachfolgenden Bände fanden einen großen Widerhall, besonders im englischen Sprachraum: »Die Ausgewanderten« (1992), »Die Ringe des Saturn« (1995) und »Austerlitz« (2001).

Ein frühes Gedicht

Seit seiner Studienzeit in Freiburg hat Sebald auch Gedichte veröffentlicht, von denen 2008 eine Auswahl unter dem Titel »Über das Land und das Wasser« erschienen ist. Zwar beruht sein Ruhm eher auf seiner Prosa, aber etwas von deren Ton (in der englischsprachigen literarischen Welt als »Sebaldian« bekannt) klingt bereits in seinen frühen Gedichten an. In Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit möchte ich eines dieser Gedichte vorstellen. Es hat als Titel den Namen unseres damaligen Wohnbezirks am Rande von Manchester:

Didsbury

Der Sonntag hatte
Das Maul voll
Kirchenglocken
Sommerhüten
Gärtnerarbeit

Die Vögel rauften
Um Gott weiß was
Zwischen verdorrten
Kastanienblüten

Der Presbyter ging
In die Maiandacht
Und es brauchte
Lang bis es
Dunkel wurde

Zuvor machten
Die Vögel noch
Ein Geschrei
In den Bäumen

Dies sind lapidare reimlose Verse, die aber – wie auch die Satzfolgen in Sebalds Prosawerken – einen eigentümlichen Sog ausüben. Hier liegt es an der unverbundenen Aufzählung in der Eingangsstrophe (»Kirchenglocken« etc.) und der entsprechenden Parallelisierung des Satzbaus in den ersten drei Strophen. Und es liegt an der rhythmisierenden Zeilenbrechung.

Inhaltlich fällt die sinnliche Prägnanz der Bildlichkeit auf. Selbst die Personifizierung des Sonntags in der Eingangsstrophe ist von drastischer Anschaulichkeit. Was aber als das charakteristisch Sebaldsche an diesen Versen erscheint, das ist eine Bildlichkeit, die die Schönheit eines Maiensonntags in melancholischer Einfärbung zeigt. »Kirchenglocken«, »Sommerhüte«, »Gärtnerarbeit« haben im »Maul« des Sonntags etwas Aufdringliches; die Kastanienblüten sind verdorrt; und die Vögel raufen sich und machen ein Geschrei. Selbst dass ausgerechnet ein (reformierter) Presbyter in die (katholische) Maiandacht geht, scheint dieser etwas von ihrem poetischen Glanz zu nehmen.

Fensterblick des Hausgenossen

Der Zufall wollte es, dass, was Sebald von seinem Fenster aus wahrnahm, von einem späteren Hausgenossen in einem ganz anderen Licht gesehen wurde. Dieser Hausgenosse war Peter Jonas, 1993 bis 2006 Intendant der Bayerischen Staatsoper. Er lud Sebald 2001 ein, eine Rede zur Eröffnung der Opernsaison in München zu halten. Zur Vorstellung des Autors schilderte er dann, wie er als Musikstudent in Manchester zu Sebalds Zimmernachbarn wurde, nachdem er auf einem Spaziergang auf das Haus in dem bäumereichen Didsbury aufmerksam geworden war: »Ich malte mir aus, in dem Zimmer hinter diesem Didsbury-Fenster zu leben und dort vom Licht der Morgensonne geweckt zu werden. (…) Ich verliebte mich in den Kastanienbaum vor dem Haus und bedachte dabei noch nicht einmal, wie golden das Laub im Herbst sein würde.«

Was in Sebalds schlichtem Gedicht die Eindrücke eines Maientags einfärbt, das wird – freilich bezogen auf objektiv Beklagbares – auch Sebalds Prosabänden ihren melancholischen Charakter verleihen – in Hinblick auf den Zustand der Natur zumal dem Band »Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt«. In den drei anderen Bänden geht es eher um schicksalhafte Lebensverläufe, insbesondere jüdischer Menschen, betroffen von Diskriminierung und todbringender Verfolgung. (GEA)