REUTLINGEN. Ergänzend zur derzeitigen Ausstellung im Atelier Victor mit Radierungen von Léo Maillet war am Mittwochabend bei einer Lesung im Kunstverein Reutlingen mehr über Maillet und weitere Künstlerinnen und Künstler zu erfahren, die in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren in der Frankfurter Städelschule die Meisterklasse von Max Beckmann besuchten. Die in Reutlingen geborene, in Frankfurt lebende Autorin Marion Victor, Tochter des Künstlers Winand Victor, stellte ihr 2023 erschienenes Buch »Der gesprengte Kreis. Max Beckmanns Schüler zwischen Realismus und Abstraktion« (204 Seiten, 39,90 Euro, Reichert Verlag, Wiesbaden) vor.
Wie ihr berühmter Lehrer Beckmann wurden Inge Dinand, Theo Garve, Georg Heck, Walter Hergenhahn, Leo Maillet, Friedrich Wilhelm Meyer, Marie-Louise von Motesiczky und Karl Tratt 1933 von den nationalsozialistischen Machthabern als entartet diffamiert, zum künstlerischen Schweigen oder zum Exil gezwungen, wie Marion Victor an vier Beispielen anschaulich machte. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zuge des Kalten Kriegs, seien sie zum zweiten Mal, diesmal vom ästhetischen Zeitgeist und dem damit verbundenen Kunstmarkt, an den Rand gedrängt worden, ließ die Autorin außerdem durchblicken. Vor 1933 hätten die Künstlerinnen und Künstler keine Zeit gehabt, sich einen Namen zu machen. Nach 1945 seien sie dann nicht mehr jung gewesen und hätten zudem gegenständlich gemalt, womit sie nicht in das kunstpolitische Konzept der 50er- und 60er-Jahre gepasst hätten.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »Entre chien et loup« mit Radierungen von Léo Maillet ist bis 23. Juni im Atelier Victor in der Ulrichstraße 5 in Reutlingen zu sehen. Besichtigung nach Vereinbarung (Tel. 07121 479662). (GEA)
In Anlehnung an Rainer Zimmermann und Hannah Arendt sprach Victor von einer »verlorenen Generation«. Mit ihrem Buch will die Autorin einen Beitrag leisten, die Porträtierten dem Vergessen zu entreißen. Wie es beispielsweise auch das 2017 in Salzburg eröffnete private »Museum Kunst der Verlorenen Generation« tut. Der Prozess der Wiederentdeckung der Künstlerinnen und Künstler und ihrer Werke beginne gerade erst, stellt Victor im Buch fest, wobei ihr vor dem Krieg entstandenes Werk im Zentrum der Aufmerksamkeit stehe.
Sonderlich vernetzt untereinander waren die Beckmann-Schülerinnen und -Schüler offenbar nicht. Beckmann sei für sie das entscheidende Bindeglied gewesen, so die Autorin. Léo Maillet, eigentlich Leopold Mayer, der nach Deportation und Flucht in der Schweiz eine neue Heimat fand, erfuhr erst nach Kriegsende, dass die Gestapo 1943 sein Pariser Wohnstudio »ausgehoben« und dabei hundert Kupferplatten und ungefähr ebenso viele Ölbilder zerstört hatte. (GEA)