TÜBINGEN. Das Theater bringt Wort und Widerwort auf die Bühne. Das gilt es auszuhalten, meint Thorsten Weckherlin, Intendant des Landestheaters Tübingen. Im Interview mit dem Reutlinger General-Anzeiger erklärt er, warum Kultureinrichtungen Räume der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung sind und Kunst und Kultur gerade in der Krise wertgeschätzt werden sollten.
GEA: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei«, heißt es im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Was bedeutet Ihnen das?
Thorsten Weckherlin: Das bedeutet mir sehr viel. Anders könnte ich meinen Job nicht machen. Und die Tatsache, dass wir das selbstverständlich finden, zeigt, dass Kunstfreiheit in der Gesellschaft angekommen ist. Allerdings müssen wir immer aufpassen: Die Corona-Pandemie hat die Schwächen der Kulturnation Deutschland schonungslos offengelegt: Die Kunsttempel mussten schließen, die Kirchen blieben offen. Religionsfreiheit sticht Kunstfreiheit. Diese Ungleichbehandlung hat die Freiheit der Kunst heftigst bedroht. Ich fand das nicht gut.
Zur Person Thorsten Weckherlin
Der gebürtige Hamburger Thorsten Weckherlin, Jahrgang 1962, ist seit der Spielzeit 2014/15 inszenierender Intendant am Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT). Er ist auch Präsidiumsmitglied des Deutschen Bühnenvereins – des Arbeitgeberverbands der deutschen Bühnen – und Vorsitzender des Landesbühnenausschusses. Nach einer Regiehospitanz bei Peter Zadek am Berliner Ensemble baute er in den 1990er-Jahren das Berliner-Ensemble-Tourneetheater auf. Vor seiner Tübinger Zeit war Weckherlin Intendant am Landestheater Burghofbühne in Dinslaken am Niederrhein. (GEA)
Sollten Ihrer Ansicht nach auch der Schutz und die Förderung der Kultur im Grundgesetz verankert werden? Etwa durch einen Satz wie »Der Staat schützt und fördert die Kultur«, wie es die Enquête-Kommission »Kultur in Deutschland« im Juni 2005 dem Deutschen Bundestag empfahl?
Weckherlin: Wir wissen alle, Kunst und Kultur sind mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung. Kultureinrichtungen sind Bildungsorte – gerade in Krisenzeiten auch Räume der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung. Das darf nie ausgeblendet werden. Ob das jetzt auch noch als Gesetz verankert werden muss, kann ich nicht beurteilen. Kultur gilt als »freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe«, insbesondere der Kommunen. Sie ist – in Anlehnung an die Kunstfreiheit des Grundgesetzes – frei, keine inhaltlichen Vorgaben schränken sie ein. Das ist wichtig. Auf der einen Seite. Auf der anderen müssen bei finanziellen Krisen Vorkehrungen getroffen werden, den Kulturbereich nicht zu schädigen. Ein Kulturstaat wie Deutschland, der seine eigenen Ansprüche ernst nimmt, muss zuallererst differenzieren und die Kunst und Kultur gerade in der Krise wertschätzen.
Sehen Sie aktuell Gefährdungen für die Kunstfreiheit in Deutschland?
Weckherlin: Ja. Anders als früher bedroht heute nicht etwa staatliche Zensur die Kunst. Diesmal kommt der Aktivismus von unten – und von den Rändern. Das macht ihn nicht besser. Ich meine die sogenannte Cancel Culture. Ein Beispiel: Plötzlich dürfen gewisse Bilder nicht mehr gezeigt werden, weil die Cancel-Culture-Aktivisten darin sexistische und rassistische Klischees bedient sehen. Durch solche Korrekturmaßnahmen entsteht der Eindruck von Bevormundung dumpfer Kunst-Konsumenten, welchen weder ein eigenes Urteilsvermögen noch die Fähigkeit zu historischer Einordnung und Distanz zugetraut wird. Das geht nicht. Kunst muss frei sein, wild, darf böse sein und muss auch wehtun können, sonst verliert sie ihren Reiz. Sie muss ein Freiraum bleiben für ungeschützte Gedanken und scharfe Worte. Überhaupt: Ich lass’ mich in meiner Betrachtung, was Kunst ist, ungern entmündigen.
Eignet sich das Theater als Schule des Pluralismus beziehungsweise der Demokratie?
Weckherlin: Ja. Wenn auch nicht immer. Ich sehe das Theater als einen Ort des Dialogs, als einen Ort, an dem wir zusammenkommen, an dem Ideen ausgetauscht werden. Und damit als eine Bastion der Demokratie. Weil das Theater von der Widersprüchlichkeit ausgeht, von organisiertem und inszeniertem Konflikt. Wort und Widerwort. Das rührt an der Demokratie. Das macht Theater per definitionem politisch.
Um den Schutz der Menschenwürde – Stichwort Antisemitismus – und der Kunstfreiheit zu gewährleisten, werden etwa für die Weltkunstschau Documenta Verhaltenskodizes ins Gespräch gebracht. Kritiker sehen darin eine Gefährdung der Kunstfreiheit. Sie auch?
Weckherlin: Das ist eine gut gestellte Frage. Als ein Freund von Israel würde ich sagen: Die Verhaltensregeln sind richtig und sollten verankert werden. Denn Judenhass in der Kunst geht überhaupt nicht. Die Kunstfreiheit, die ich ja sehr hochhalte, wird indes eingeschränkt. Das kann ich eigentlich nicht gut finden. (GEA)