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Liv Solveigs neues Album »Slow Travels«: Klangräume wie Islands Weite

Die aus Reutlingen stammende Berlinerin Liv Solveig legt ihr zweites Album »Slow Travels« vor

Liv Solveig
Liv Solveig Foto: Jakob Tillmann
Liv Solveig
Foto: Jakob Tillmann

REUTLINGEN/BERLIN. Es ist erst das zweite Album, das Liv Solveig vorlegt – und doch atmet es etwas von spätem Meisterwerk. In den Songs von »Slow Travels« öffnet die in Reutlingen aufgewachsene Wahlberlinerin weite Räume, führt den Hörer in epische Klanglandschaften, in die sie Momente von anrührender Intimität bettet. Dass hier eine Künstlerin den großen Wurf wagt, blieb nicht unbemerkt: Der Sender SWR erklärte die Platte in seinem zweiten Programm zum »Album der Woche«.

»Slow Travels«, langsame Reisen – es war in der Tat eine lange Reise, bis Liv Solveig zu diesem ambitionierten Statement des Indiepop gelangte. Liv Solveig Wagner, wie sie eigentlich heißt, stammt aus einer Pfarrersfamilie im Reutlinger Hohbuch, über die Mutter hat sie eine weitverzweigte Verwandtschaft in Norwegen. In Karlsruhe studierte sie Geige, spielte auch im Orchester, doch dann zog es sie für drei Jahre nach New York, um Jazzgesang zu studieren. Hier dockte sie als Geigerin und Background-Sängerin der Band Sketchy Black Dog an die Indiepop- und Songwriter-Szene an.

Zurück in Karlsruhe ging sie daran, ihre eigene Songwelt zu erkunden. »Build My Own World« hieß denn auch ihr Debütalbum von 2014: zarte Songwritermusik, verspielt, verträumt, dann wieder rau und herb. Jazz- und Indiepop-Elemente fließen mit ein, Erinnerungen an New York, aber auch Anklänge an die Weite und Schroffheit Norwegens.

Doch bald ist Karlsruhe für sie ausgereizt. »Die Clubs dort hatte ich alle abgegrast, ich wollte wissen, wo ich stehe, wie es ist, in einem Topf mit ganz vielen anderen Musikern zu sein. Ich musste raus aus dieser Bequemlichkeit, musste mich neu entdecken.« Also auf nach Berlin!

Angekommen in Berlin

Seit März 2016 lebt sie dort, hat eine Wohnung in Neukölln. Es habe eine Zeit lang gedauert, um Fuß zu fassen, doch inzwischen fühlt sie sich angekommen. Fühlt sich als Teil einer Indiepop-Szene, die sie nicht als Konkurrenz wahrnimmt. »Das ist wie eine Familie, man unterstützt sich auch gegenseitig bei seinen Projekten.«

Nachdem sie zuvor mit ihrer ersten Platte viel getourt war – auch im franz.K war sie damit zu Gast –, hat sie sich in Berlin schnell an das neue Album gemacht. Symphonischer sollte es werden, mit Orchester-, Chor- und E-Gitarren-Klängen, mit viel Atmosphäre und dem Gefühl von Weite und Tiefe. Dazu Texte, die auf poetische Weise ins Existenzielle zielen, mit einem Hauch von Rätsel und Mysterium. Sie habe der Oberflächlichkeit der Smartphone-fixierten Schnell-Klick-Welt etwas entgegensetzen wollen, sagt sie. Daher die radikale Abwendung vom Alltäglichen in den Songs ihres Albums; daher der Aufbruch in Landschaften von grandioser Weite, die immer Norwegen oder Island mit ihren kargen Bergen und Fjorden spüren lässt.

2017 ist sie mit den Songs ins Studio von Tobias Siebert gezogen, der mit ihr auch als Produzent fungiert hat. Vier Wochen haben sie sich Zeit genommen. Erst habe sie alleine alle Gitarrenspuren eingespielt, zuletzt seien die anderen Musiker dazugekommen: ein Streichquintett, Trompete, Posaune. Alles echt, keine synthetischen Replikate, das Streichquintett wird zum Streichorchester, indem es seine Parts mehrfach übereinander spielt.

Der erste Mix ist fertig – doch das Gefühl »Das ist es!« bleibt aus. Sie habe eine Distanz empfunden zu dem Ergebnis, habe das Gefühl gehabt, »ich muss das jetzt erst mal zur Seite legen«. Ihren Fans, die das Projekt per Crowdfunding unterstützt haben, muss sie erklären, warum sich das Album verzögert. Dazu erkrankt 2018 ihr Vater, stirbt schließlich. Eine schwierige Zeit.

Im zweiten Anlauf

Doch dann packt sie das Projekt wieder an, lässt sich von Tobias Siebert die bisher eingespielten Tonspuren geben und fängt bei sich zu Hause an, die Songs neu zu bearbeiten. Spuren fliegen raus, neue kommen dazu, die E-Gitarre bekommt eine tragendere Rolle, teils mit dem Geigenbogen gestrichen: »Das gibt einen tollen Effekt.«

Der Sound wird weniger folkig, dafür atmosphärischer, symphonischer. »Ich wollte das von Anfang an so haben, wollte Bilder von weiten Landschaften erzeugen.« Klangbilder wie aus einem Roadmovie, mit der Weite Islands, der majestätischen Kraft Norwegens, wohin sie jedes Jahr mehrmals fährt, wegen ihrer Verwandtschaft, auch wegen der Natur.

Im Prinzip lag 2019 alles vor, doch dann kam Corona, und in der Pandemiezeit wollte sie dieses Zentralwerk nicht herausbringen. »Ich hatte den Eindruck, dass viele Alben in dem Jahr verpufft sind, weil die dazugehörigen Tourneen verschoben werden mussten.« Auch für sie gingen 20 bis 30 Auftritte verloren. Dafür habe sie viel Zeit gehabt, das Album fertig zu produzieren. Insgesamt habe die Corona-Phase sie verändert: »Man hatte weniger Eindrücke, weniger Interaktion, das macht träge und langsam.« Jetzt versuche sie, neue Impulse zu finden.

Auch finanziell sei es schwierig gewesen, zumal mit den staatlichen Nothilfen nicht alles so glatt lief, wie angekündigt. Der Eindruck, dass die Kultur von der Politik nicht ernst genommen wird, hat sich ihr aufgedrängt. Dazu sei unsicher, welche Clubs und Kulturcafés die Pandemie überleben werden – und damit welche Auftrittsmöglichkeiten gerade für weniger bekannte Musiker.

Geholfen habe ihr, dass sie auch Unterricht gibt. Sie hat Gesangsschüler, eine Geigenschülerin, einen kleinen Chor an einer Schule. Die Chorarbeit führt sie seit einem Jahr online fort. So sei zumindest etwas Interaktion in ihren Alltag gekommen.

Ansonsten ist sie optimistisch, dass bis Herbst wieder eine Art von Normalität einkehrt. In drei Releasekonzerten will sie ihre Arbeit vorstellen: am 15. September in Hamburg, am 18. September in Magdeburg, schließlich am 21. September in Berlin. Im Frühjahr 2022 will sie durch Süddeutschland touren. Auch das franz.K wäre dabei ein Wunschort. (GEA)

 

Liv Solveig: Slow Travels

(Revolver Distribution)