SINDELFINGEN. Einen seltsamen, doch eindringlichen Kontrast bieten sie, die Ausstellungen, die derzeit im Schauwerk Sindelfingen zu sehen sind. Doug Aitken, Multimediakünstler aus Kalifornien, setzt sich in seinen Werken auseinander mit dem Verhältnis von Medien und Wirklichkeit, beobachtete Menschen im Lockdown, kontrastiert Natur und menschgemachte Umgebungen, schafft Ikonen für eine von Kommunikationsmitteln überschwemmte Welt. Die Japanerin Chiharu Shiota hüllt Dinge des alltäglichen Lebens in Wolken gesponnener Wollfäden ein, entrückt sie so der Welt.
Ausstellungsinfo
Die Austellung »Doug Aitken: Return to the Real« ist bis zum 26. Juni zu sehen. Die Ausstellung »Chiharu Shiota: Silent Word« dauert bis 1. April. Das Schauwerk Sindelfingen in der Eschenbrünnlestraße 15 hat Montag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr geöffnet. (GEA)
www.schauwerk-sindelfingen.de
Schon im Foyer des Schauwerks begegnen die Besucher einer zersplitterten Welt: »Edge of Chaos« und »3 Circles«, Werke, die Doug Aitken 2022 und 2023 schuf. Sie bestehen aus unzähligen kleinen Spiegeln, die auf einer rechteckigen Fläche oder, im zweiten Fall, auf der Fläche von drei einander überlappenden Kreisen angebracht sind. Die Ausrichtung der Spiegelflächen weicht dabei voneinander ab – und der Betrachter sieht sich selbst, sieht seine Umgebung, aufgelöst, verdoppelt und vervielfacht in einem Mosaik leuchtender Spiegel. Diese Arbeiten gehören der Sammlung des Schauwerks an.
Strandpanorama der Coronazeit
Aitken wurde 1968 in Redondo Beach bei Los Angeles geboren und durch eine Vielzahl künstlerischer Aktionen bekannt: Er hat Architektur und Landschaft mit seinen Installationen bespielt, hat Klangbilder generiert und mit Musikern aus Pop und Avantgarde zusammengearbeitet. Er hat Bücher veröffentlicht, Happenings organisiert. Oft beziehen sich seine Arbeiten auf konkrete Situationen – so auch bei »Wilderness« (2022), der zentralen Installation der Sindelfinger Schau.
Sie besteht aus Leinwänden, die sich fast vollständig zu einem Kreis von beträchtlicher Größe schließen. Der Betrachter begibt sich ins Innere dieses Kreis, wird, ganz im Stil immersiver Präsentationen, umschlossen von einem Panorama, das Aitken vor seinem Haus am Strand von Los Angeles filmte: Szenen, die Menschen beobachten, die sich während des Lockdowns hinaus begaben – gesehen aus der Nähe oder von ferne, Wolken, Landschaft, Bilder der Brandung. Ergänzt werden sie durch Klänge, die der Künstler sampelte und zu einer Musik aufschichtete. Eine entrückte, manchmal fast mystische Wirkung entsteht.
Leuchtende Ikonen, schlafender Körper
Den Menschen, die sich der Weite der Welt aussetzen, stellt »migration (empire)« (2008) Tiere gegenüber, die menschliches Umfeld erkunden: Aitken zog durch die USA, um in Motelzimmern Aufnahmen von Wildtieren anzufertigen. Wiederum werden Leinwände mit diesen Szenen bespielt – hier in der Form von drei großen Werbetafeln (»Billboards«), wie sie sich an den langgestreckten Straßen der USA finden. Da sitzen Eulen oder Gänse auf den Motelbetten, die Landschaft Nordamerikas gleitet vorbei, das Porträt eines Landes entsteht aus ungewöhnlicher Perspektive.
Aitkens Video-Arbeiten wirken oft auf eine nüchtern-konzentrierte Weise geradezu spirituell. In seinen Skulpturen aus Licht, Kunststoff, Glas scheint er Ikonen medialen Lebens zu erschaffen, manchmal nicht ohne leise Ironie. »3 Modern Figures« (2018) besteht aus drei Figuren in Smartphone-Pose, aber ohne Smartphone: Menschen aus Kunststoff, die im Dunkel leuchten und auf etwas lauschen, das nicht da ist. »Untitled (sleeping Body)« besitzt die Form eines schlafend hingestreckten Körpers, gefüllt mit einer Collage aus Bildern von Highways, Motels, Straßenkreuzungen voller Neon. Ein schlafender Körper träumt von Amerika.
Sprache weitet sich aus
Wirkt bei Aitken alles wie eine Meditation über den Ort, die Zeit, die Form der Wahrnehmung, lockt Chiharu Shiota die Betrachter in einen Traum ganz anderer Art hinein. Sie verwendet vor allem Wollfäden unterschiedlicher Farbe, mit denen sie Objekte umspinnt, Räume ausfüllt, mitunter auch gänzlich abstrakte Bilder gestaltet. In Sindelfingen beschäftigt sich die Künstlerin, die 1972 in Osaka geboren wurde und seit 1996 in Berlin lebt, mit einem Medium, das den Sujets von Doug Aitken geradezu entgegensteht: mit dem geschriebenen Wort, der Sprache.
»Silent Word« hat sie ihre Ausstellung genannt; ihr zentrales Werk ist ein alter, hölzerner Sekretär, umhüllt von einer Vielzahl an Fäden, an denen Buchstaben unterschiedlicher Größe hängen: ein gewaltiger Wirbel an Sprache, eine Aura der Lettern, die aus dem kleinen Sekretär hervorbrechen, den Raum über ihm füllen, eine Explosion der Möglichkeiten des Wortes. Hinzu kommt eine Anzahl kleinerer plastischer Arbeiten, bei denen Chiharu Shiota von Hand beschriebene Papiere mit ihren Fadenwolken umhüllt hat: Hommage an Schrift und Sprache, an eine der ältesten Kulturtechniken. (GEA)