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Kunstbiennale Venedig: Streifzug durchs Ethno-Wunderland

Die Kunstbiennale Venedig zu erkunden, ist wie eine Schnitzeljagd. Überall im pittoresken Gassengewirr locken Länderpavillons in malerischen Palazzi. Der GEA hat sich ins Labyrinth gestürzt - und reichlich Kunst aufgestöbert.

Performerin Ventura Profana ist Teil des von Guerreiro do Divino Amor ersonnenen Fantasiekosmos im Schweizer Pavillon.
Performerin Ventura Profana ist Teil des von Guerreiro do Divino Amor ersonnenen Fantasiekosmos im Schweizer Pavillon. Foto: Armin Knauer
Performerin Ventura Profana ist Teil des von Guerreiro do Divino Amor ersonnenen Fantasiekosmos im Schweizer Pavillon.
Foto: Armin Knauer

VENEDIG. Venedig ist keine Stadt, sondern ein Organismus. Die Müllwerker mit ihren Handwagen wuseln durch das Gassengewirr wie durch ein Adernetz; Polizei-, Last- und Sanitätsboote durchqueren die Kanäle wie Schlagadern eines Körpers. Inmitten dieses Organismus macht sich alle zwei Jahre die Kunstbiennale wie ein Pilzmyzel breit. Wie Pfifferlinge im Wald ploppen hier und dort in der Stadt Länderschauen auf, zudem noch eine Fülle von Begleitausstellungen. Dazu kommen die beiden Hauptschauplätze in den Giardini und am Arsenale, wo sich so viele Länderpavillons plus zwei Zentralschauen drängen, dass man dort mühelos mehrere Tage verbringen kann. Alles in allem eine kolossale Kunst-Schnitzeljagd, die durch die Segnungen der Handy-Navigation einfacher geworden ist. Der GEA hat sich auf Streifzug begeben - und selbst in drei kompletten Tagen nicht jeden Länderpavillon erhascht.

Tesfaye Urgessa porträtiert im äthiopischen Pavillon Menschen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland.
Tesfaye Urgessa porträtiert im äthiopischen Pavillon Menschen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland. Foto: Armin Knauer
Tesfaye Urgessa porträtiert im äthiopischen Pavillon Menschen in Flüchtlingsunterkünften in Deutschland.
Foto: Armin Knauer

Erste Erkenntnis: Die Beiträge der Newcomer-Nationen im Gewimmel der Stadt sind mindestens so interessant wie jene der großen Platzhirsche in den Giardini oder im Arsenale. Äthiopien etwa, zum ersten Mal dabei, hat Tesfaye Urgessa geschickt. Der zeigt in einem Gebäude unweit des Markusplatzes Insassen deutscher Flüchtlingslager, gemalt in ausdrucksstarken Szenen. Menschen, die auf Matratzen in Turnhallen ihre Würde bewahren. Nur eine Gasse weiter trumpft eine Gruppe von Künstlern im Länderbeitrag von Simbabwe mit großartigen Installationen und Wandarbeiten auf, die aus dem gefertigt sind, was Europäer wegwerfen: Computertastaturen, Reißverschlüsse, gebrauchte Zahnbürsten. Afrikas Kultur hat einen starken Auftritt in Venedig. Auch Nigeria und die Elfenbeinküste sind mit spannenden Beiträgen vertreten.

Futuristische Sehnsuchtswelten

Zweite Erkenntnis: Auf dem krisengeplagten Planeten geht die Sehnsucht nach einer Flucht in futuristische Fantasiewelten um. Die Israelin Yael Bartana setzt die Menschheit im Deutschen Pavillon in ein Raumschiff zu besseren Welten und lässt junge Menschen in der bordeigenen Öko-Oase tanzen. Den Schweizer Pavillon macht der Brasilianer Guerreiro do Divino Amor (»Krieger der göttlichen Liebe«) ironisch zu einer Multivisions-Werbesendung für ein Zukunfts-Alpenland auf einem fernen Planeten. Wong Weng Cheong wendet die Sache ins Surreale und schickt die Besucher seiner Rauminstallation für Macao in eine nächtliche Großstadtlandschaft, die von stelzenbeinigen Schafen durchstreift wird. Ins Reich der Tiere sehnt sich auch Carlos Casas. Sein Beitrag für Katalonien in einer Werkhalle nahe dem Arsenale lässt die Besucher in Videos die Welt durch die Augen von Fischen, Vögeln und Insekten sehen.

Niedergedrückt von der Last der Geschichte: Holzfigur von Jems Koko Bi, der auch schon in Reutlingen ausgestellt hat, im Pavillo
Niedergedrückt von der Last der Geschichte: Holzfigur von Jems Koko Bi, der auch schon in Reutlingen ausgestellt hat, im Pavillon der Elfenbeinküste. Foto: Armin Knauer
Niedergedrückt von der Last der Geschichte: Holzfigur von Jems Koko Bi, der auch schon in Reutlingen ausgestellt hat, im Pavillon der Elfenbeinküste.
Foto: Armin Knauer

Dritte Erkenntnis: Es sind vier Themen, die diese Mega-Kunstschau dominieren - Idendität, Queerness, Flucht und Krieg. Vor allem die Identitätssuche indigener Völker ist ein Roter Faden. Selten hat man so viele Ethno-Muster auf einer modernen Kunstschau gesehen. Buntheits-Spitzenreiter ist Jeffrey Gibson vom Stamm der Cherokee, der den US-Pavillon in ein Meer von Signalfarben taucht. Archie Moore, Künstler mit Aborigine-Wurzeln, hat die Goldene Palme für den besten Länderpavillon gewonnen. Die schwarzen Wände des australischen Pavillons hat er mit kreidegekritzelten Aborigine-Stammbäumen überzogen. Den Rest des Raumes füllt ein riesiger Tisch über einem flachen Wasserbecken, darauf stapeln sich Haftbefehle für australische Ureinwohner.

Biennale-Infos

Die Kunstbiennale in Venedig ist bis 24. November geöffnet. Die Hauptschauplätze in den Giardini und im Arsenale öffnen um 11 Uhr und schließen um 19 Uhr; ab 1. Oktober ist von 10 bis 18 Uhr geöffnet. An beiden Schauplätzen sind jeweils eine Zentralausstellung und eine größere Anzahl an Länderbeiträgen zu sehen. Die Länderbeiträge außerhalb der Hauptschauplätze an verschiedenen Stellen der Stadt sind teilweise bereits ab 10 Uhr geöffnet. Montags ist geschlossen, sowohl in den Zentralschauplätzen wie in den Pavillons im Stadtgebiet. Der deutsche Außenbeitrag mit Klanginstallationen auf der Insel Certosa ist täglich von 11 bis 21 Uhr in Betrieb. Die Insel ist mit der Vaporetto-Linie 4.1 zu erreichen, man muss einen Stopp an der Insel jedoch bei der Crew anmelden. Zur Rückfahrt drückt man einen Knopf am Hafen, damit das Boot hält. (GEA)
www.labiennale.org/en

Das Eintauchen in indigene Identitäten ist insgesamt ein Roter Faden. Besonders eindrucksvoll die Schau der Elfenbeinküste im südlichen Teil der Stadt, wo mehrere Künstler eine Brücke von afrikanischer Identität zum Bluesgefühl in den USA schlagen. Mit einer riesigen liegenden Holzfigur ist der Ivorer Jems Koko Bi dabei, der auch schon im Kunstmuseum Reutlingen ausgestellt hat. Auch der zweite Teil im Deutschen Pavillon arbeitet sich an Identität ab: Der türkischstämmige Berliner Ersan Mondtag führt den Besucher in eine Gastarbeiterwohnung der 1960er-Jahre, die er wie einen staubbedeckten »Lost Place« präsentiert.

Von Kassels Desaster gelernt

Vierte Erkenntnis: Venedig hat vom Kasseler Desaster gelernt. Was bei der Documenta schief lief, hat man in Italien peinlichst vermieden. Der »Globale Süden« hat seinen großen Auftritt, beherrscht die beiden Zentralschauen - was der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa als Wiedergutmachung nach Jahrzehnten westlicher Dominanz begründet. Mit Pedrosa hat man einen Kurator beauftragt, der sich selbst im »Globalen Süden« verortet - im Gegensatz zum indonesischen Kollektiv Ruangrupa in Kassel jedoch sehr genau den europäischen Hochkunstbetrieb kennt. Antisemitische oder antiisraelische Spitzen sind ein No-Go; der blutige Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern kommt in Venedig nicht vor. Saudi-Arabien etwa schickt mit Manal Aldowayan eine Künstlerin, die mit riesigen, an Baumscheiben erinnernde Kissen für Frauenrechte in der muslimischen Welt eintritt. Die Biennale ist skandalfrei, aber auch stromlinienförmig. Von einem Aufbrechen des Kunstbetriebs durch Kollektive oder das »Reisscheunen-Prinzip« ist hier keine Rede - die Beiträge aus Afrika, Asien und Lateinamerika fügen sich ins gewohnte museale Konzept.

So klingt es, wenn russische Geschosse einschlagen: Im polnischen Pavillon wird der Ukrainekrieg zum beklemmenden Sprachlern-Wor
So klingt es, wenn russische Geschosse einschlagen: Im polnischen Pavillon wird der Ukrainekrieg zum beklemmenden Sprachlern-Workshop. Foto: Armin Knauer
So klingt es, wenn russische Geschosse einschlagen: Im polnischen Pavillon wird der Ukrainekrieg zum beklemmenden Sprachlern-Workshop.
Foto: Armin Knauer

Fünfte Erkenntnis: Krieg und Klimawandel sind als Themen nicht so breit vertreten wie Identität und Kolonialismus - sie haben dafür die eindrucksvollsten Beiträge. Für Portugal verwandeln Mónica de Miranda, Sónia Vaz Borges und Vânia Gala eine Etage des prächtigen Palazzo Franchetti bei der Akademie-Brücke in eine pflanzenwuchernde Öko-Oase - inklusive Ausdruckstanz im Dschungel. Für Polen machen Yuriy Biley, Pavlo Kovach und Anton Varga als »Open Group« den Schrecken russischer Angriffe für die ukrainische Bevölkerung greifbar: In einem Video beschreiben Betroffene die Geräusche einschlagender Geschosse in der Form eines Sprachlern-Workshops. Originell verbindet der Alexandrier Wael Shawky Kriegsanklage und Kolonialaufarbeitung im ägyptischen Pavillon. Aus dem Aufstand ägyptischer Nationalisten gegen die britische Besatzungsmacht 1882 in Alexandria macht er eine tanztheaterartig stilisierte Oper mit arabischen Sprechgesängen. Großartig!

Szene aus dem tanztheaterartigen Musikfilm »Drama 1882« von Wael Shawky im ägyptischen Pavillon über einen Aufstand gegen die br
Szene aus dem tanztheaterartigen Musikfilm »Drama 1882« von Wael Shawky im ägyptischen Pavillon über einen Aufstand gegen die britische Besatzung in Alexandria. Foto: Armin Knauer
Szene aus dem tanztheaterartigen Musikfilm »Drama 1882« von Wael Shawky im ägyptischen Pavillon über einen Aufstand gegen die britische Besatzung in Alexandria.
Foto: Armin Knauer

Hommage an Geflüchtete

Sechste Erkenntnis: Flüchtlingsschicksale haben mit die eindrücklichsten Beiträge inspiriert. Der Bildhauer Reza Aramesh beispielsweise verteilt in der Kirche San Fantin hyperrealistisch in weißen Marmor gehauene Unterwäsche auf dem Boden. Im Pavillon von Panama malt Brooke Alfaro Flüchtlingsgruppen in der Art grotesker Figuren von Hieronymus Bosch, wie sie nackt auf Archen durch den Urwald treiben. Anna Jermolaewa, die 1989 aus der Sowjetunion floh, stellt in einem Video für den österreichischen Pavillon all die unbequemen Schlafpositionen nach, die sie auf einer Bahnhofsbank in Wien einnahm, als sie dort auf ihrer Flucht strandete.

Unterwäsche aus weißem Marmor als Hommage an Flüchtlingsschicksale von Reza Aramesh in der Kirche San Fantin in Venedig.
Unterwäsche aus weißem Marmor als Hommage an Flüchtlingsschicksale von Reza Aramesh in der Kirche San Fantin in Venedig. Foto: Armin Knauer
Unterwäsche aus weißem Marmor als Hommage an Flüchtlingsschicksale von Reza Aramesh in der Kirche San Fantin in Venedig.
Foto: Armin Knauer

Fazit: Selten hat man bei einem Fest moderner Kunst so viele farbenfrohe Ethno-Muster gesehen. Selten stand daneben die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte mit ihren Gräueln so sehr im Fokus. Viel Raum bekommen zudem die Geflüchteten und Migranten mit ihren Nöten und Existenzängsten. Schließlich aber begegnet man immer wieder der Flucht aus den Krisen dieser Welt in quirligbunte Zukunftswelten im All. Draußen in den engen Gassen sorgen unterdessen die Müllwerker mit ihren Handwagen weiter dafür, dass es schön sauber bleibt in der Lagunenstadt. Zumindest solange, bis das ersehnte Raumschiff ins kosmische Idyll abhebt. (GEA)