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Krieg im Spielzeugland: Wolfgang Folmer im Kunstmuseum Reutlingen

Bei Wolfgang Folmer spiegeln sich in scheinbar harmlosen Märchen- und Spielzeugfiguren Krieg, Gewalt und sexuelle Fantasien. Das Kunstmuseum Reutlingen widmet ihm nun eine Retrospektive an zwei Standorten. Und fragt: Wie verstörend kann das Niedliche sein?

Ina Dinter in der letzten von ihr am Kunstmuseum kuratierten Ausstellung mit Wolfgang Folmer vor seiner monumentalen Holzschnitt
Ina Dinter in der letzten von ihr am Kunstmuseum kuratierten Ausstellung mit Wolfgang Folmer vor seiner monumentalen Holzschnitt-Arbeit. Foto: Armin Knauer
Ina Dinter in der letzten von ihr am Kunstmuseum kuratierten Ausstellung mit Wolfgang Folmer vor seiner monumentalen Holzschnitt-Arbeit.
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Dackel, Schweinchen, Schaukelpferd: Auf den ersten Blick sind wir im Spielzeugland gelandet in der Ausstellung von Wolfgang Folmer im Kunstmuseum Reutlingen. Gleich beim Reinlaufen empfängt den Besucher eine riesige schwarze Holzplatte (eigentlich sind es vier miteinander verbundene), in die muntere Motive gekerbt sind: Das Schweinchen will auf dem Dackel reiten und lässt sich an einer Seilwinde auf den Sattel hieven. Lustig! Oder doch nicht?

Der zweite Blick löst Unbehagen aus. Nicht im Kinderzimmer spielt die Szene, sondern in einer Art Bretterbude. Alles scheint aus dem Lot, als könnte es im nächsten Moment zusammenkrachen. Das ist symptomatisch für Folmers Kunst. Im scheinbar Niedlichen entlarvt sich eine Welt am Abgrund.

Wolfgang Folmer erläutert eine seiner Zeichnungen in seiner Retrospektive im Kunstmuseum.
Wolfgang Folmer erläutert eine seiner Zeichnungen in seiner Retrospektive im Kunstmuseum. Foto: Armin Knauer
Wolfgang Folmer erläutert eine seiner Zeichnungen in seiner Retrospektive im Kunstmuseum.
Foto: Armin Knauer

Einen Einzelgänger der Kunst hat Ina Dinter für eine große Überblicksschau eingeladen - es ist die letzte von ihr kuratierte Schau, ehe sie Ende Februar nach Bergisch Gladbach geht. Die Retrospektive zieht sich über zwei Etagen des Spendhauses und bespielt zudem die Galerie im Untergeschoss der Wandel-Hallen. Der Kunstmarkt hat Folmer nie interessiert, ihm ging es um die künstlerische Freiheit. Dafür hat er ein Leben am Existenzminimum in Kauf genommen. Hier und da ein paar handwerkliche Jobs, das musste genügen. »Ich habe das Abenteuer gesucht«, sagt er. Und: »Ich war auf vielen Kontinenten.« In China hatte er ein Stipendium, in Wisconsin im mittleren Westen der USA, in Argentinien, Norwegen, Nordschweden.

Aus einem winzigen Dorf aus dem Saarland kommt er, das Elternhaus vollgestopft mit Krimskrams. Schlosser hat er gelernt, war mit 20 Wagenmeister bei der Bahn und verbeamtet. Die Aussicht, das bis zur Rente zu machen, droht ihn umzubringen. Er fängt nochmal von vorn an, entdeckt die Welt der Kunst und Museen, studiert an der Freien Kunstschule Stuttgart, dann an der Kunstakademie. Zeichnet mit Bleistift perfektionistisch Szenen aus Zeitschriften, legt sie wild übereinander, Glamour, Alltägliches, Pornografie, inspiriert auch vom Durcheinander des elterlichen Haushalts.

Fallende Babys: Ina Dinter und Wolfgang Folmer vor einer Wandzeichnung Folmers im Untergeschoss der Wandel-Hallen.
Fallende Babys: Ina Dinter und Wolfgang Folmer vor einer Wandzeichnung Folmers im Untergeschoss der Wandel-Hallen. Foto: Armin Knauer
Fallende Babys: Ina Dinter und Wolfgang Folmer vor einer Wandzeichnung Folmers im Untergeschoss der Wandel-Hallen.
Foto: Armin Knauer

Auch das lässt er hinter sich. »Immer, wenn es zu gekonnt wird, fange was ganz Neues an«, erklärt er. Er zeichnet gestisch aus dem Moment heraus mit Kohle auf große Papierbögen, filmt sich dabei wie in einer Performance. Das Körperliche gehört bei ihm unbedingt dazu, er kann nicht stillhalten, in seiner Freizeit treibt er Eiskunstlauf, bis er 40 ist.

Im Corona-Lockdown zieht er nachts mit der Fotoausrüstung los, fotografiert die menschenleere Stadt, vor allem Gefängnisse, »vielleicht, weil ich mich selbst eingesperrt gefühlt habe«. Jetzt ziehen sich diese Motive ganze Wände entlang, digital zusammengesetzt aus bis zu 130 Einzelaufnahmen. »Als ich in Stammheim fotografiert habe, war sofort die Polizei da, aber sie haben mir geglaubt und haben mich machen lassen.«

Schwein statt Wolf: Digitalgrafik von Folmer mit Rotkäppchen, Paarhufer und Campingbus.
Schwein statt Wolf: Digitalgrafik von Folmer mit Rotkäppchen, Paarhufer und Campingbus. Foto: Armin Knauer
Schwein statt Wolf: Digitalgrafik von Folmer mit Rotkäppchen, Paarhufer und Campingbus.
Foto: Armin Knauer

In China entdeckt er bei einem Stipendium das Schneiden in Holzplatten, riesige Formate entstehen, er wird dort interviewt, hat Ausstellungen. Und ist verwirrt, weil er das von zu Hause gar nicht kennt. Er baut seine Schlagzeugfertigkeiten von früher ein, als er im Jugendalter in mehreren Bands spielte. Nun dreht er Videos, die ihn beim Improvisieren an den Becken zeigen, auch das ist in der Ausstellung zu sehen. »Ich spüre beim Schlagzeugspielen den Klängen nach und beim Zeichnen den Bewegungen.«

Immer wieder das Zeichnen. Schnell und gestisch mit Kohle auf Papierbögen, wobei Abdrücke des einen Motivs den Bildgrund für das nächste ergeben. Gartenzwerge sind es nun, Reminiszenz an den elterlichen Garten, die in einen Strudel von Gewalt schliddern. Hakenkreuze und Enthauptungen, all das, was Folmer aus den Medien entgegendröhnt zu jener Zeit, es war mal wieder Krieg im Nahen Osten.

Ein Video in der Kunstmuseumsgalerie zeigt Folmer beim Zeichnen.
Ein Video in der Kunstmuseumsgalerie zeigt Folmer beim Zeichnen. Foto: Armin Knauer
Ein Video in der Kunstmuseumsgalerie zeigt Folmer beim Zeichnen.
Foto: Armin Knauer

Im Untergeschoss der Wandel-Hallen hat Folmer mit Kohle einen Teddybär auf die nackte Wand gezeichnet, süß, aber von monströser Größe. Auf einer anderen Wand purzeln Babys aus der Höhe - schickt sie der Himmel oder stürzen sie gerade zu Tode? Im digitalen Spielzeugland ist ohnehin der Teufel los. Aus dem Internet hat Folmer Ausmalfiguren geladen und setzt sie am Computer neu zusammen. Ein Teddybär glotzt Rotkäppchen zwischen die Beine, der Steckenpferdreiter drischt auf das Hinterteil des Pin-up-Girls ein, Rotkäppchen macht Picknick mit einem Schwein. Überall lauert das Sexuelle, Obszöne.

15 Jahre hat Folmer in Heilbronn gelebt, 15 in Stuttgart, sein Atelier hat er immer noch in Ludwigsburg. Mit 63 hat er erkannt, dass es seiner Freiheit nicht schadet, auch mal ein Museum zu bespielen, Ina Dinter hat es dankend genutzt. Eine atemlose, bildersprudelnde Schau ist daraus geworden, in der sich die Abgründe im Niedlichen spiegeln, vielleicht sind sie nur so zu ertragen. Folmer selbst tritt eine feste Dozentenstelle in Dortmund an. »Zum ersten Mal habe ich eine feste Wohnung«, sagt er, noch etwas unsicher, was er davon halten soll. Wobei: »Eine warme Dusche ist auch was wert.« (GEA)