TÜBINGEN. Ein Skandal wird derzeit in Tübingen behoben. Der Skandal, dass Frauen das Komponieren jahrhundertelang verwehrt war. Und dass, wenn sie es doch taten, ihre Werke schnell wieder von den Spielplänen verschwanden. Nun kommt sie wieder aus den Schubladen, die Musik einer Emilie Mayer, einer Josephine Lang, einer Ethel Smyth - beim Tübinger Komponistinnenfestival.
Auftragswerk von Mari Vihmand
Bei der Eröffnung am Freitagabend im Festsaal der Neuen Aula gesellte sich noch die Musik einer aus Estland stammenden Uracherin hinzu. Mari Vihmand hatte als Auftragskomposition des Festivals das Lied »Herz, mein Herz, so schweige du« von Josephine Lang aufgegriffen. Hatte es weitergesponnen, in eine ganz neue Tonwelt versetzt. Was die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Ariane Matiakh in Klangzauber pur verwandelte.
Flirrende Streicher ziehen Kraftfelder auf. Blechbläsermotive steigen wie Morgennebel auf. Einwürfe von Holzbläsern und Schlagwerk formen naturhafte Panoramen, als stünde man auf einer Waldlichtung. Auf der wie scheue Rehe Motive aus Josephine Langs Lied erscheinen. Momente schwirrender Dramatik samt Paukensolo. Lauerndes Geheimnis. Friedvolles Verdämmern. Eine ganz eigene Klangwelt, faszinierend, herausfordernd. Mari Vihmand wird gefeiert dafür.
Leider von zu wenig Menschen - voll war's beileibe nicht. Wer nicht da war, verpasste staunenswerte Musik. Eine Ouvertüre der Polin Grazyna Bacewicz etwa, mitten im Zweiten Weltkrieg geschrieben. Ritte auf der Brandung des Rhythmus. Entfesselte Trompetenfanfaren. Als wolle die Komponistin den Klammergriff des Krieges mit einer Energieentladung sprengen. Dazu eine Ariane Matiakh am Pult, die das Orchester voranpeitscht, als stünde sie unter Strom. Ein Ereignis.
Das ist auf ganz andere Weise auch das Lied »Herz, mein Herz, so schweige du!« von Josephine Lang. Der Tübingerin, die im 19. Jahrhundert früh ihren Mann verlor, ihre Kinder durchbringen musste, mit ihrer Musik selbst Felix Mendelssohn bezauberte. Zwischen Dramatik und Schicksalsergebenheit zieht in ihrem Lied ein Lebensbogen vorüber. Sibylla Rubens legt große Hingabe in ihren glockenreinen Sopran. Zart ihr Zwiegespräch mit Pianistin Barbara Braun. Wie ein Lebensfaden die Cellostimme von Ulrich Schneider, samtig und warm.
Wer nicht da war, hat auch verpasst, wie Landtagspräsidentin Muhterem Aras als Schirmherrin des Festivals Tacheles redete. »Haarsträubend« sei es, dass Rollenbilder und Vorurteile wie das von der angeblich mangelnden Schöpferkraft die Frauen so lange am Komponieren hinderten. Nicht hinnehmbar, dass noch heute keine Gleichberechtigung herrsche. Nur vier von vierzig Siemens-Musikpreisen seien an Frauen gegangen, donnerte Aras. Nur vier von fünfundneunzig Oscars für Filmmusik. »Und deshalb geht es nicht ohne die Quote!«, ruft Aras kämpferisch ins Publikum.
Das ist offenbar zu viel für ein männliches Exemplar der Gattung Homo sapiens im Publikum. Mit einem Zwischenruf versucht er, Aras' Kampfrede für die musikalischen Frauenrechte abzukürzen. Was ihm einen geharnischten Rüffel von OB Boris Palmer einträgt. »So geht das nicht!«, stellt er klar und entschuldigt sich bei Aras für die Störung. Auch für die Mikrofonpanne zu Beginn. Wobei Aras, zierliches Energiebündel, nicht die Frau ist, die sich durch sowas aus der Ruhe bringen lässt.
Am Ende Emilie Mayers Sinfonie f-Moll. Was für ein Stück! Unverkennbar von Beethoven beeinflusst. Aber dann findet die Komponistin zu einem ganz eigenen Klangstrom, in dem die Motive organisch auseinander hervorgehen. Betörend schön das Cello-Horn-Solo am Beginn des langsamen Satzes, aus dem heraus sich eine weit gespannte Klanglandschaft entwickelt. Keck das gewitzt irrlichternde Scherzo. Und mutig, dass Mayer das Finale, das in optimistischem Dur einsetzt, in dramatischem Moll enden lässt. Das Festival geht mit täglichen Aufführungen noch bis 8. Oktober. (GEA)