REUTLINGEN. Der Reformator Matthäus Alber ist mit Reutlingen fest verbunden. Vor 500 Jahren kehrte er in seinen Geburtsort Reutlingen zurück, um nach seiner Priesterweihe eine Prädikatur an der Marienkirche anzutreten. Diesem Jubiläum wurde am Sonntagabend in eben dieser Kirche in einem Chor-Kantatenkonzert gedacht. Dekan Marcus Keinath betonte in zwei Lesungen Aspekte in Albers religiösem Verständnis. Das Freiheitsverständnis des Reformators ließ ihn die Erfüllung von Jesus’ Willen über die weltlichen Mächte stellen, wobei ihm das Wort Gottes das zentrale Anliegen war.
In zwei Kantaten klangen Aspekte dieses Verständnisses an. Zunächst in einem Jugendwerk des Marienkirchenkantors Torsten Wille, der Kantate »Ach Gott, verlass mich nicht«, welche er in seiner Studienzeit innerhalb von zwei Wochen komponierte. Musikalisch ist diese Kantate an Bach orientiert, doch liegen genügend Kennzeichen zugrunde, welche die eigene Handschrift erkennen lassen.
Musiker der Württembergischen Philharmonie Reutlingen gestalteten beweglich und lebendig mit der Kantorei der Marienkirche den Eingangschor. Eindringlich, betrübt und doch mit Zuversicht entfalteten sich die Rufe des Chors »Verlass mich nicht!«. Dabei gelang es, den Fluss der Musik strömen zu lassen.
Dramatische Rezitative
Die Grundformen der Kantate waren klassisch gehalten, doch gab es manche Eigenheit. Die Rezitative waren teils dramatisch bis zur Annäherung an das Sangliche einer Arie (»Wer aber beharret«). Schlusschor und -choral begannen mit dem Anfangsthema, mündeten dann in eine breite Ausgestaltung, bei welcher man eine Reifung erkennen konnte – dieser Satz wurde von Wille später hinzugefügt. Es gab homofone Elemente, doch das Polyfone war das Ziel. Klirrend brach die Musik ab (»die Welt mag zerbrechen«), um kraftvoll wieder aufzustehen und Gottes Liebe zu verkünden.
Einzelnen Instrumentalisten wurden immer wieder solistische Partien eingeräumt: Paulina Krauter (Violine) mit ihrem ungezwungenen und fassbaren Spiel, Martin Künstner (Oboe) und Irene de Marco (Fagott) mit einem gewinnenden Duett – das gesangliche Duett untermalend. Ulrike Härter (Sopran) hatte hier ihren kurzen Einsatz: Beginnend aus dem Nichts ließ sie wie ein Engel ihre beruhigenden Floskeln »hoffe«, »sei unverzagt« von oben regnen.
Deutliche Textumsetzung
Marcus Elsässer hatte als Tenor deutlich mehr Einsätze. Textausdeutend ließ er einzelne Worte wichtig werden, sang in der Bach’schen Kantate »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« in seiner Arie die Melismen sehr konkret aus und ließ mit klarster Aussprache Lebendigkeit entstehen. Markus Lemke kleidete seine Bass-Partien in ein eindrückliches Gewand, wenn er drohend deklamierte (»werden euch töten«). Nicht nur in der Bach-Arie glänzte er mit anregender, fülliger Expressivität. Auch Sarah-Lena Eitrich (Alt) gestaltete routiniert, ausgereift und ästhetisch.
Mit der Bach’schen Kantate war der Frieden gefunden, das Wort Gottes als oberste Priorität gesetzt – ein klares Statement zum Reformationstag. (GEA)