Leben mit dem Krieg
Was treibt eine junge Europäerin in eine Stadt, in der Bomben detonieren? Risikosucht? Abenteuerlust? Nichts von dem spricht aus der Frau, die in der Stadtbibliothek liest. Ruhig wirkt sie, zurückhaltend, überlegt. Keine Draufgängerin, sondern eine Frau, die mit kritischem Blick immer auch die eigene Rolle im Auge behält. Die nach einem Jahr in Kabul sagt: »Ich habe keine Ahnung, wie es ist, im Krieg zu leben.« Weil das Traumatische nicht die ständigen Bedrohungen seien, sondern die Erinnerungen. Erinnerungen an Angehörige und Bekannte, die bei Anschlägen oder Drohnenangriffen ums Leben kamen oder wegen der schlechten medizinischen Versorgung. Alles Erfahrungen, die sie nicht gemacht hat, weil sie neu dazukam und weil sie nach einem Jahr wieder ging.Aber sie hat Menschen getroffen, die all das durchmachten und mit all dem zurechtkommen mussten. Und diese Menschen porträtiert sie in ihren Reportagen. Den Übersetzer Zia, der für einen deutschen Verbindungssoldaten dolmetscht und dafür von den Taliban mit dem Tod bedroht wird. Oder die Haushälterin Leylima, deren Mann und Schwager von den Taliban getötet wurden, sodass sie gleich mehrere Familien versorgen muss. Oder die Mädchen Madina, Fatima und Brischna, die vor dem Tor des Bundeswehr-Camps in Faisabad selbstgefertigte Schals verkaufen. Oder der junge Jalal, der nachts als Pförtner jobbt, morgens drei Stunden schläft und danach zur Uni geht.
Immer aus ihrer subjektiven Sicht, dabei aber sehr geradlinig und unaufdringlich porträtiert die Autorin diese Menschen, mit einer ganz klaren, direkten Sprache. Ihre schwierige Situation in einem von Arbeitslosigkeit, Bürgerkrieg und Korruption zerrissenen Land wird dabei sehr deutlich. Gleichzeitig aber auch, mit welcher Energie, Umsicht und Schlauheit sie sich behaupten.
Mit Witz und Mut
Da sind, stellvertretend für das Heer von auf der Straße jobbenden Kindern, die drei Mädchen, die flink alle möglichen deutschen und englischen Brocken aufschnappen, um mit den Soldaten ins Geschäft zu kommen. Da ist der Übersetzer Zia, der unbeirrt loyal zu seinem Freund, dem deutschen Verbindungssoldaten Fabian bleibt. Da ist der junge Jalal, der darauf besteht, Journalist zu werden, obwohl das einer der gefährlichsten Berufe in Afghanistan ist – weil er die Chance sieht, die Missstände in seinem Land ans Licht zu bringen. Und da ist die zähe, nie aufgebende Leylima, die bei all der Anstrengung, die ihr die Versorgung ihrer Familie und der ihres Bruders abverlangt, nie ihren Humor verliert.Es ist wohl diese Stärke der Menschen dort, ihr Witz und ihr Mut, die Wurmb-Seibel immer wieder dorthin zurückkehren lässt – zuletzt im Mai, um ein Filmprojekt vorzubereiten. Darin will sie mit ihrem Partner Nik den Anschlag auf ein Kulturzentrum in Kabul nacherzählen, bei dem zwei Menschen getötet wurden.
Große emotionale Anteilnahme
Bemerkenswert ist die Anteilnahme der über hundert Zuhörer im Saal. Die Fragen prasseln nur so. Dürfen die Frauen dort arbeiten? Dürfen die Mädchen zur Schule gehen? Wie geht das Land mit der internen Flüchtlingswelle um? Das Interesse ist groß – und bemerkenswert auch die aus den Wortmeldungen sprechende emotionale Anteilnahme an dem Geschehen im fernen Afghanistan.Die Perspektive dort, daran lässt die Autorin keinen Zweifel, ist nach dem Abzug der ausländischen Truppen schwieriger denn je. Ob es den Leuten dort ein wirklicher Trost ist, ist schwer zu sagen – aber vergessen hat man sie hier offenkundig nicht. (GEA)
Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg, 255 Seiten, 17,99 Euro (gebundene Ausgabe), DVA-Verlag, München.