TÜBINGEN. In Tübingen haben Hegel und Mörike studiert, Hölderlin saß hier erst in der Psychiatrie, dann im Turm, Uhland schuf unsterbliche Zeilen. Nach dem Zweiten Weltkrieg glänzten hier Denker wie Walter Jens, Ernst Bloch, Hans Mayer, Hans Küng, Hermann Bausinger. Christiane Nüsslein-Volhard holte sogar den Nobelpreis an den Neckar. Zuzeiten war Tübingen eine Geistesstadt von nationalem, gar internationalem Rang. Und heute? Immer noch? Vielleicht in anderer Form? Auf anderen Gebieten? Mit anderen Persönlichkeiten? Der GEA hat nachgefragt.
Tempi passati – alles vorbei?
Zuerst beim Verleger Hubert Klöpfer, der Texte Tübinger Geistesgrößen publizierte und publiziert, erst in seinem Klöpfer & Meyer-Verlag, später in der Edition Hubert Klöpfer bei Kröner in Stuttgart. Ja, Leute wie Jens, Bausinger, Bloch, Küng, Hans Mayer, das seien Felsbrocken gewesen in der intellektuellen Landschaft. Indes: Tempi passati, das sei vorbei.
Ihm dränge sich der Eindruck auf, dass die Geisteswissenschaften, einst Ruhm der Unistadt, in den Hintergrund gerückt seien. Und durch Exzellenzcluster und Drittmittel-Einwerbung heute der naturwissenschaftliche Bereich im Vordergrund stehe. »Aber natürlich ist Tübingen noch immer eine überaus lebendig-wirksame Geistesstadt«, betont Klöpfer. Und nennt als Beispiele Karl-Josef Kuschel, Bernhard Pörksen, Jürgen Wertheimer. Nicht zu vergessen die vielen Schriftsteller Tübingens: etwa Eva Christina Zeller, Peter Prange oder Joachim Zelter.
Die Vielfalt macht’s
Was sagt Uni-Rektorin Karla Pollmann dazu? »Ich erinnere mich noch gut an die Vorlesungen von Walter Jens während meiner Studienzeit. Er war ein exzellenter Vortragender.« In der Öffentlichkeit werde eine Universität stark mit Lichtgestalten wie Jens oder Küng verbunden. »Für mich als Studentin lag der Reiz des Studiums aber in der Vielfalt der Perspektiven und Angebote.« Und da eben nicht nur in den Geisteswissenschaften: »Eine große Universität wie Tübingen brauchte auch damals schon beides: Naturwissenschaften und Geistes- und Sozialwissenschaften.« Pollmann verweist auf die Ringvorlesungen, die oft alles zusammenbringen.
Dass der Fokus sich verschoben hat, sieht auch die Rektorin: »Bei meiner Rückkehr als Rektorin im Herbst 2022 fiel mir auf, dass neue Wissensgebiete die Universität bis ins Stadtbild hinein verändert hatten«, sagt sie. Und verweist auf das neue Areal mit Forschungseinrichtungen zum Maschinellen Lernen, auf das neue Geo- und Umweltforschungszentrum auf der Morgenstelle, auf den Forschungsschwerpunkt »Global Encounters« zu den Kulturkreisen Lateinamerikas, Afrikas und des Indischen Ozeans.
Gerade die Vielfalt sei faszinierend und erzeuge den Impuls, das Verbindende zwischen diesen Einrichtungen zu suchen. Interdisziplinarität und die Zusammenarbeit in wissenschaftlichen Teams würden dabei immer wichtiger. Als Beispiel nennt Pollmann das neue Forschungszentrum für Digitale Bildung, in dem Erziehungswissenschaftler mit Expertinnen für Maschinelles Lernen, Sportwissenschaftlern, Juristinnen oder Psychologen arbeiten. »Solche Schnittstellen werden immer wichtiger.«
Breit aufgestellte Geisteswissenschaft
Dorothee Kimmich ist mit dieser Analyse völlig einig. Den Typ des intellektuellen Gelehrten, wie ihn Jens, Mayer oder Küng verkörperten, gebe es so nicht mehr, sagt die Professorin für Neuere Deutsche Literatur. Was nicht heiße, die Geisteswissenschaften hätten an Bedeutung verloren. »Tübingen ist in diesem Bereich auch heute noch sehr breit aufgestellt«, betont Kimmich. Im Ranking der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, gemessen an Drittmitteln, Publikationen und Zitationen, rangiere die Stadt national auf Platz zwei, bewege sich damit auf Augenhöhe mit München oder Berlin.
Dass die Naturwissenschaften, die Medizinforschung, die Künstliche-Intelligenz-Forschung in Tübingen stark an Bedeutung gewonnen haben, sieht auch Kimmich. Nur greife die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften heute nicht mehr. In den Forschungsschwerpunkt Maschinelles Lernen fließen ihr zufolge Impulse auch aus der Philosophie und sogar Ethnologie ein. Als weiteres Beispiel nennt sie das neu gegründete Institut für Rechtspopulismusforschung. Dafür habe Tübingen vier neue Professuren bekommen – beteiligt seien Soziologie, Politikwissenschaft und Medienwissenschaft. In der Archäologie falle Geistes- und Naturwissenschaft in einem Fach zusammen. Es brauche philologisches Wissen, um alte Schriften zu entziffern, naturwissenschaftliches für DNA-Analysen oder Altersbestimmungen.
Interdisziplinäre Teams typisch
So ist das interdisziplinäre Arbeiten auch in Kimmichs Sicht heute typisch. Gerade auch für Tübingen als relativ kleine Stadt mit kurzen Wegen und hoher Expertendichte – das mache die Vernetzung einfach. Es bedeute aber auch, dass charakteristisch nicht der glanzvolle Einzelforscher sei, sondern das interdisziplinär zusammenwirkende Kollektiv. Was nicht ausschließe, dass einzelne Persönlichkeiten aus solchen Zusammenhängen herausleuchten. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen fällt Kimmich ein. Aber auch der Archäologe Nicholas Conard, der internationale Meriten habe.
Spitze durch Exzellenzcluster
Bei allen Verdiensten der Geisteswissenschaften: In die nationale und internationale Topliga katapultiert haben die Neckarmetropole andere Fächer. Tübingen ist Exzellenzuniversität, eine von zehn in Deutschland. Das verdankt die Hochschule ihren drei Exzellenzclustern, bundesweit gibt es 57. »Mit den Exzellenzclustern bündelt die Universität Expertise aus verschiedenen Fächern«, erklärt Patrick Klügel, Öffentlichkeitsarbeiter der Tübinger Exzellenzstrategie. »Sie stellt neue Fragen und gibt international konkurrenzfähige Antworten.« Das bringt nicht nur Ruhm, sondern auch Geld: 200 Millionen Euro vom Staat für die Jahre 2019 bis 2026.
Die drei Tübinger Exzellenzcluster kommen aus der Informatik und der Medizin, sie befassen sich mit Künstlicher Intelligenz, Krebs und Infektion. Das KI-Cluster untersucht, wie wissenschaftliches Arbeiten von Maschinellem Lernen profitieren kann. Algorithmen erkennen bereits Muster in großen Datenmengen, jetzt soll die Rechnung weniger Fehler ergeben und für Menschen verständlich sein. Das Krebs-Cluster untersucht, wie Therapien die Krankheit dauerhaft besiegen können. Medikamente zerstören bereits Tumore, jetzt sollen Resistenzen gebrochen und die Rückkehr verhindert werden. Das Infektions-Cluster untersucht, wie Mikroorganismen Infektionen bekämpfen können. Antibiotika töten auf einen Schlag alle Bakterien, jetzt sollen dank neuer Wirkstoffe »gute« Bakterien gezielt »böse« Bakterien ausschalten.
Wissenschaft, Wirtschaft, Politik
In Tübingen forschen nicht nur die Universität und außeruniversitäre Einrichtungen, sondern auch große Konzerne und kleine Start-ups. Wissenschaft, Wirtschaft und Politik schließen sich zu Ökosystemen zusammen. Auch hier liegen die Schwerpunkte auf Künstlicher Intelligenz und Medizin.
Der KI-Forschungsverbund heißt Cyber Valley, verteilt sich auf die zwei Standorte Tübingen und Stuttgart und bildet das KI-Kompetenzzentrum für Baden-Württemberg. Kern des Cyber Valley ist das 2011 gegründete Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme. Während das Tübinger Institut mit Maschinellem Lernen und Maschinellem Sehen die Software entwickelt, baut das Stuttgarter Institut mit Robotik die Hardware.
2016 kamen als weitere Forschungseinrichtungen die Universitäten Tübingen und Stuttgart sowie die Fraunhofer-Gesellschaft dazu. Außerdem beteiligen sich die Autobauer Daimler, Porsche und BMW sowie die Zulieferer Bosch, IAV und ZF Friedrichshafen. Geld geben das Land Baden-Württemberg und Stiftungen. Das lohnt sich: Das Cyber Valley rangiert – gemessen an den Veröffentlichungen bei internationalen Konferenzen – unter den Top 20 der weltweit besten KI-Forschungsstätten, sonst finden sich dort nur Amerikaner und Chinesen.
Mit dem AI Center schlägt Tübingen einen größeren Bogen. Das 2023 gegründete, staatlich geförderte Zentrum ist Teil eines deutschlandweiten Netzwerks für KI-Forschung mit insgesamt sechs Standorten. Das ELLIS-Institut geht noch einen Schritt weiter: Es startete ebenfalls 2023 und kooperiert im europäischen Verbund mit weiteren 38 ELLIS-Einheiten in 14 Ländern. Mit ELLIS will die EU ein Gegengewicht zu USA und China aufbauen. Diesen Ländern wird bei der KI-Entwicklung gemeinhin ein Fokus auf wirtschaftlichen Profit beziehungsweise soziale Kontrolle nachgesagt. Im Unterschied dazu setzt die EU auf gesellschaftlichen Nutzen. Das ist auch das Ziel des Tübinger KI-Exzellenzclusters: Dort will man Algorithmen fair, erklärbar und rechtssicher machen.
Hirnforschung und Biomedizin
An der Schnittstelle von Künstlicher Intelligenz und Medizin steht die Hirnforschung. Einerseits dient das natürliche menschliche Gehirn als Vorbild für künstliche intelligente Systeme. Andererseits hilft KI bei der Diagnose von Hirnerkrankungen wie Demenz und Parkinson. Die Neurologie ist in Tübingen mit mehreren Instituten vertreten.
Ebenso die Biomedizin. Sie hat zwei Krankheiten den Kampf angesagt: Krebs und Virusinfektionen. In beiden Fällen soll das körpereigene Immunsystem des Patienten ertüchtigt werden, befallene Zellen zu erkennen und zu vernichten. Das geschieht mit einer Impfung. Den Impfstoff baut die Biomedizin – anders als die herkömmliche Medizin – künstlich im Labor. Er kann verschiedene Bestandteile des Immunsystems aktivieren: Die universitäre Forschungsgruppe um Professor Hans-Georg Rammensee setzt auf T-Zellen gegen Krebs, die Uni-Ausgründung Curevac auf Antikörper gegen Corona. Dafür verwendet Curevac innovative mRNA-Technologie: Mit dem Botenstoff stellt der menschliche Körper seine eigene Medizin her. Trotzdem war Curevac bislang wenig erfolgreich, auch 24 Jahre nach der Gründung hat das Unternehmen kein Produkt auf dem Markt. Mehr Glück mit ihrem mRNA-basierten Corona-Impfstoff hatten Biontech aus Mainz und Moderna aus Cambridge/USA.
Lebendige Kultur
Nochmal zurück zu Hubert Klöpfer: Eine Geistesstadt lebe nicht nur von Exzellenzclustern und glanzvollen Professoren, darauf verweist der Buchverleger zu Recht. Sondern auch von einer reichen, lebendigen Kulturszene. Dazu gehört die Vielfalt kleiner Buchhandlungen, von Rosa Lux über Quichotte bis zur Lyrikhandlung am Hölderlinturm. Ebenso Institutionen wie Sudhaus und Kunsthalle, Club Voltaire, LTT, Künstlerbund, Jazzclub, Filmtage und Zimmertheater. Und zu guter Letzt eine freie Bühnenszene, die mittlerweile im Verein Pact e.V. organisiert ist. In diesem Sinne sprudeln Geist und Kreativität weiterhin in der Neckarstadt. (GEA)