STRASSBURG. Wenn ein so bedeutender Künstler wie Max Ernst Lewis Carrolls »Alice«-Bücher auf eine Stufe mit Schöpfungen Shakespeares, Grünewalds und Baudelaires hebt, stellt er der Romanfigur eine ziemlich günstige Unsterblichkeitsprognose. In der Tat sind die Erzählungen des Engländers nicht einfach nur erfolgreiche Kinderbücher. Zusammengenommen bilden »Alice im Wunderland« und »Alice hinter den Spiegeln« vielmehr eine Art Grundbuch der abendländischen Moderne, wie jetzt zwei Ausstellungen in Straßburg deutlich machen.
Auf der britischen Insel ist »Alice« derart ins kollektive Bewusstsein gesickert, dass der Zeitungskarikaturist Martin Rowson zweifelsfrei auf ein Aha-Erlebnis beim Leser rechnen konnte, als er Monate nach dem Brexit-Referendum Premierministerin Theresa May in die Nähe von Carroll-Figuren wie Tweedledee und Tweedledum rückte. Bei Rowson tragen die wunderlichen Zwillinge unverkennbar Züge von Boris Johnson und Nigel Farage.
Die Straßburger Doppelschau mit dem Gütesiegel »Ausstellung von nationalem Interesse« im Musée d’Art moderne et contemporain und im Musée Tomi Ungerer beleuchtet die Wirkungsgeschichte von Carrolls einzigartiger Schöpfung am Beispiel einer französischen kulturellen Institution: dem Surrealismus.
Alice-Fans in Paris
Schon im Titel der Schau im Moderne-Museum beobachtet »SurréAlice« den Einfluss der beiden Bücher auf die Kunstströmung. Als Surrealist hatte Max Ernst ein Faible für Alice’ fantastische Abenteuer, doch war er bei Weitem nicht der einzige Alice-Fan unter den Pariser Surrealisten. Bereits die Gründungsurkunde des Surrealismus, André Bretons Manifest von 1924, schlug sprachlich eine Brücke zum ersten Carroll-Buch. Darin heißt es: »Das Wunderbare ist immer schön, gleich welches Wunderbare ist schön, es ist sogar nur das Wunderbare schön.«
Die zweite Ausstellung – »Illustr’Alice« im Musée Tomi Ungerer – bietet eine Vielzahl von Belegen für Bezugnahmen auf Carrolls Figur auf dem Gebiet der Grafik. Denn nicht nur haben zahlreiche Künstler die Alice-Geschichten illustriert (herausragendes Beispiel im Moderne-Museum ist eine Ausgabe mit Heliogravüren Dalís von 1969). Auch ungezählte Karikaturisten und Cartoonisten zitieren die Alice-Bücher in mannigfacher Weise.
In »SurréAlice« betritt der Besucher die Ausstellung in einer wahrhaft surrealen Installation durchs aufgesperrte Maul einer Riesenkatze. Das animalische Entrée aus Pappe der britischen Künstlerin Monster Chetwynd spielt auf Carrolls Chesire-Grinsekatze an. Nur um im Inneren der Schau, gleichsam im Verdauungstrakt des Tiers, fürs Erste ernüchtert in eine abgedunkelte Archivwüste mit einer Unzahl an in Vitrinen präsentierten Alice-Ausgaben entlassen zu werden.
Doch ist die Schau auch im weiteren Verlauf ausstellungsarchitektonisch zumindest stellenweise eine ebenso ambitionierte wie inspirierte immersive Präsentation bei herabgedimmtem Licht – mit Märchenwald und exotischen Tierpräparaten aus dem Zoologischen Museum der Stadt. Mit Hörstationen und Magritte’schen Wölkchen überm Kopf neben der sich gegen Ende himmelblau aufhellenden Stellwandarchitektur. Der Parcours ist als eine Art Abstieg ins Unbewusste konzipiert, das als Kraftzentrum fluider Identitäten, angezapft nicht nur in der berühmten Écriture automatique, die heilige Kuh des Surrealismus war.
Kaktushase und Libellenspinne
In Themen wie »Der wandelbare Körper« oder »Nonsens und Absurdes« leuchtet die hochkarätig bestückte Schau in den Bezugnahmen der Surrealisten auf Carrolls Alice zugleich bislang unterbelichtet gebliebene Aspekte der Kunstströmung selbst aus. Deutlich wird etwa der Stellenwert der Natur als Medium der Metamorphose nicht nur bei Max Ernst. Dessen Wandgemälde »Histoire naturelle« von 1923 wird maßstabsgetreu reproduziert an einer Wand wiedergegeben.
Und in der Sektion »Histoire supernaturelle« finden sich neben seinem Kaktushasen und seiner Libellenspinne jede Menge bis dato unbekannter Spezies – etwa von der Hand Victor Brauners, Toyens oder Dorothea Tannings, Max Ernsts letzter Ehefrau. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellungen »SurréAlice« und »Illustr’Alice« sind bis 26. Februar im Musée d’Art moderne et contemporain (1 place Hans Jean Arp) bzw. im Musée Tomi Ungerer (2 avenue de la Marsaillaise, Straßburg) zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag 10 bis 13 und 14 bis 18 Uhr. An Silvester nur bis 16 Uhr, an Neujahr geschlossen. (GEA) www.musees.strasbourg.eu/ surréalice.-illustr-alice