REUTLINGEN. Die Leistungsbilanz war beeindruckend, schon nach dem ersten Teil mit Antonín Dvoráks achter Sinfonie. Alleine die Musizierlust, mit der die jungen Instrumentalisten der Freien Sinfonie Tübingen auf dieses Großkaliber der symphonischen Weltliteratur losgingen, hatte etwas Zupackendes, Ansteckendes, was man bei routinierten Profi-Orchestern zuweilen vergebens sucht. Und auch bei jenen ist der Hörer vor gelegentlichen Intonationstrübungen oder Phrasierungsunebenheiten nicht immer gefeit. Insoweit fielen solche kleinen Teufel im Detail wie bei den Klarinetten im ersten Satz nur wenig ins Gewicht, zumal die beiden im Verlauf das Problem in Griff bekamen und vor allem die exzellente Soloflötistin für ungetrübten Hörgenuss sorgte.
Besonders blieb der sonore Streicherkörper in Erinnerung, der mit 48 Musikerinnen und Musikern geradezu saftig die Tutti-Passagen grundierte. Aber auch, beispielsweise bei den Sechzehntel-Passagen der Violinen im Adagio, die erforderliche Grazilität anklingen ließ.
Gut ausgearbeitete Dvorák-Sinfonie
In der Dvorák-Sinfonie überzeugten weitere interpretatorische Details. So wurde gerade der langsame Satz ausgesprochen schön ausmusiziert, ohne an den Rändern auszufransen – eine Gefahr, die hier immer wieder droht. Die Gestaltung des Höhepunkts ließ von ferne gar Gustav Mahler anklingen und machte deutlich, wie sehr dieser große Symphoniker des frühen 20. Jahrhunderts zeitlebens aus den Quellen der böhmischen Volksmusik schöpfte. Von dieser ist auch die Dvorák-Sinfonie durchzogen, deren rhythmische Triebkräfte im Finale kraftvoll, doch nie derb erklangen. Dirigent Benjamin Wolf hatte die Partitur weitestgehend im Kopf und folglich nicht den Kopf in der Partitur, um die jungen Musiker sicher zu einer kurzweiligen und spannungsreichen Wiedergabe zu führen.
Im zweiten Teil des so gut wie ausverkauften und erfreulicherweise auch quer durch die Altersgruppen besuchten Konzerts trat noch der Tübinger Chor Coro Vivo für John Rutters sakropoppiges »Magnificat« in Aktion. Bei diesem handwerklich effektsicher gebauten, von Musical- und Orff-Anklängen durchsetzten Stück aus dem Jahr 1990 fühlte sich der von Wolf punktgenau einstudierte Chor hörbar in seinem Element.
Präzise Metrumwechsel
Klangschön in allen Stimmgruppen und in tadelloser rhythmischer Präzision gelangen die zahlreichen Takt- und Metrum-Wechsel. Die Textdeklamation war vorbildlich. Gestalterisch ließ besonders das doppelchörig angelegte »Of a Rose, a lovely Rose« aufhorchen: höhensicher und homogen die Frauenstimmen, ausgewogen die Tenöre und Bässe. Das Orchester begleitete hörbar gut aufgelegt in exakt getroffener Klangbalance, mit präziser Zeichengebung von Wolf geleitet bis hin zum lebhaft pulsierenden und zugleich mächtig auftrumpfenden »Amen«.
Einen besonderen Akzent setzte in Rutters Stück die Begegnung mit der Sopranistin Verena Gropper, die speziell in der Alten-Musik-Szene mit führenden Dirigenten und Ensembles wie Ton Koopman oder dem Concerto Köln gearbeitet hat. Auch jetzt, in einer Komposition aus dem späten 20. Jahrhundert, überzeugte sie mit ihrer weit geschwungenen Legatokultur und ihrer mühelosen Ansprache aller Register bis hinauf zu leuchtender Höhe. Das Publikum reagierte begeistert und bekam noch eine außergewöhnliche Zugabe auf den Nachhauseweg: Josef Rheinbergers Motette »Bleib bei uns, denn es will Abend werden«, bei der sich die Instrumentalisten der Freien Sinfonie mit den Sängern des Coro Vivo zu einem herrlichen A-cappella-Klang vereinten. (GEA)