DONAUESCHINGEN. Das waren sie also, die ersten Donaueschinger Musiktage unter weiblicher Leitung seit 102 Jahren. Wer nun geahnt, befürchtet oder erhofft hatte, das renommierteste Neue-Musik-Fest der Welt würde mit einem Schlag vollkommen verweiblicht - sah sich bestätigt. Die erste Ausgabe unter der 43-jährigen Lydia Rilling war, von wenigen Ausrutschern abgesehen, ein Komponistinnen-Festival. Was der Qualität nicht geschadet hat.
Auch sonst hat die ehemalige Chefdramaturgin der Philharmonie Luxembourg einiges auf neue Schienen gesetzt. Nicht mehr das einsam in seiner Klause brütende Komponisten-Genie stand im Zentrum, sondern Tonkunst als Ergebnis von Zusammenarbeit. Das Ergebnis: bereichernd, horizonterweiternd. Zuweilen entstanden da regelrechte Hörspiele, wenn eine Komponistin sich etwa mit einer Schriftstellerin zusammentat. Bei der Hamburger Autorin Anja Kampmann mit der iranischen Komponistin Elnaz Seyedi wurde daraus die melancholische Erinnerung an eine vergangene Liebe in karger Küstenlandschaft, in den Klängen des Ensembles Ascolta wie in einem seelischen Echoraum wiederhallend. Sehr bewegend vorgetragen von Schauspielerin Birte Schnöink im Dialog mit der israelischen Sopranistin Einat Aronstein.

Ein abgefahrenes Spektakel voller Pop- und Kulturbezüge wird hingegen daraus, wenn eine Sprach-Ironikerin wie Felicitas Hoppe auf eine Ton-Ironikerin wie Iris ter Schiphorst trifft. Schlagerpop und Nonsens-Theater prasseln da auf die Besucher der Donauhallen ein, Monteverdi-Arien und Kinderreime (»Drei Chinesen ...«), und immer wieder Versatzstücken eines makabren Grimm-Märchens. So lakonisch Hoppe rezitiert, so theatralisch-witzig agiert Salome Kammer als ihre Dialogpartnerin. Herrlich!
Nur ausnahmsweise arbeiten auch mal zwei Männer zusammen für ein Stück. So der Pole Wojtek Blecharz mit dem Kostümdesigner Nicolas Navarro Ruenda für sein fast dreistündiges Raumklang-Spektakel »Symphony No. 3«. Die Töne erklingen aus einem Labyrinth von Minilautsprechern am Boden der Erich-Kästner-Halle, zwischen denen sich die Besucher hockend, liegend, kauernd ausbreiten. Dazwischen wandeln, gewandet wie Jedi-Ritter der Tonzunft, Blecharz und Ruenda umher, schalten diesen Lautsprecher an, sammeln jenen ein. Leise summende Klangfelder füllen den Raum, Meeresrauschen, Kranichruf und Walgesänge. Dazwischen Posaunenraunen, Kontrabasslockflöten-Tiefklang, Kontrabassklarinetten-Röhren von echten Musikern. Technorhythmen, industrielle Tonbrandungen, am Ende Harmoniefelder aus den Tiefen der Musikgeschichte. Ein Jedi-Ritual der Tonkunst, um sich darin zu verlieren.

Meist geht es jedoch um Komponistinnen (selten ein Komponist), die ein Stück gemeinsam mit einem Ensemble entwickeln. Bei der Saxofonistin Ingrid Laubrock oder dem New Yorker Trompeter Peter Evans funktioniert das wie im Jazz: Der Solist bettet seine teils improvisierten Klänge auf die Beiträge des Ensembles - hier das New Yorker Quartett Yarn/Wire aus zwei Pianistinnen, einer Schlagzeugerin und einem Schlagzeuger. Unglaublich, was für Töne Laubrock und Evans ihren Instrumenten entlocken. Der New Yorker Tyshawn Sorey webt mit Yarn/Wire hingegen an der Celesta eine nächtliche Traumlandschaft fern jeder Virtuosenshow - und das in der Tat im Stockfinstern.
Eine Öko-Mahnung darf nicht fehlen. Die Neuseeländerin Annea Lockwood erarbeitete mit Yarn/Wire ein raschelndes Geräusch-Ökosystem zum Untergang der Insektenwelt. Der junge Rohan Chander wird hingegen mit Fechtmaske auf dem Kopf zum Protagonisten einer Art Videospiel-Space-Opera. Als liebesuchendes Roboterwesen begibt er sich mit Yarn/Wire in ein klingelndes, knarzendes Elektronik-Universum. Während die Österreicherin Olga Neuwirth das Quartett mit brachialem Hämmern unter Tage schickt, wo der »Black Dwarf«, der schwarze Zwerg, nach Erzen schürft.
Die gewaltigste Kooperationsaufgabe haben die 91-jährige Französin Éliane Radigue und ihre Mitarbeiterin Carol Robinson gestemmt. Nach einem Konzept von Radigue hat Robinson mit dem SWR-Symphonieorchester ein halbstündiges Werk ohne jede Noten, nur durch Absprachen und Handzeichen erarbeitet. Ein Stück von zart aufwellenden Klängen, luftigem Gekräusel, Atmosphäre wie an einer Meeresküste füllt beim Eröffnungskonzert die Baarsporthalle. Eindrucksvoll.
Insgesamt macht sich eine neue Offenheit bemerkbar. Improvisierte Teile, Bezüge zu Jazz und Popmusik - all das ist inzwischen Teil des Ganzen. Da kann ein Konzert auch einmal aus ganz unverfälscht und in bewegender Harmonie gesungenen Schauerballaden aus den Appalachen bestehen. So wie das die Berlinerin Jessie Marino gemeinsam mit vier norwegischen Musikerinnen an Schlagwerk und Kontrabass erarbeitet hat. Nur die Übergänge sind wirklich Neue Musik in Form geheimnisvoll raunender Geräuschteppiche. Das alles ist in Dunst und Dämmerlicht getaucht - und im Hintergrund übt eine Tennisspielerin dazu laut stöhnend Aufschläge, kämpft auf ihre Weise gegen den (sportlichen) Untergang. Wunderlich-surreales Schauertheater.
Viel Liebgewonnenes an Donaueschingen ist jedoch auch unter Lydia Rilling da. Das Flanieren zu den Klanginstallationen im Fischhaus, im Museum Art plus, diesmal auch in der Orangerie. Mit Dunkelkammer-Fotografie als Memento mori. Mit einem orangenen Farbbad samt Luftballon-Infraschall in der Orangerie. Mit skurrilen Mini-Maschinerien, die trockenem Geäst Töne entlocken. Auch die Künstlertalks im Café-Ambiente der Alten Hofbibliothek gibt es noch. Nur das Catering, das hat auch schon besser funktioniert. Am Samstag wie am Sonntag ging vorzeitig das Essen aus. (GEA)