REUTLINGEN. Vor zwei Jahren hat das Musikkorps der Bundeswehr aus Siegburg bei einem Konzert in der Reutlinger Stadthalle geglänzt. Jetzt war das Spitzenensemble der deutschen Armee auf Einladung der Lions-Clubs Reutlingen, Neckar-Alb und Ermstal wieder da, um zugunsten von Kindern psychisch kranker Eltern ein Benefizkonzert zu geben. Erneut ernteten die Musiker im fast komplett gefüllten Saal stehende Ovationen.
Die Zuhörer erlebten eine Bundeswehr, die, wie Oberstleutnant Christoph Scheibling, der Dirigent des Musikkorps, betonte, im Musikbereich nicht den Ausstattungsmangel hat, für den sie so oft gescholten wird. Eine Bundeswehr mit klarer demokratischer Haltung auch. Eine, die an die deutschen Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur und an das Grundgesetz und seine Werte erinnerte.
Scheibling ging auf diese Werte in seiner Moderation ein. Vor allem aber waren es die aufgeführten Werke, die eine populistischen Angriffen widerstehende Grundhaltung unterstrichen.
Jüdischer Trauergesang
Im von Guido Rennert komponierten, groß angelegten Werk »70 Jahre Grundgesetz – Eine deutsche Geschichte« zeichnete das Orchester nicht nur die Stationen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute nach. Die Komposition band – in Form von Toneinspielern – auch die von einem Enkel Konrad Adenauers gesprochene Präambel des Grundgesetzes mit ein. Und Passagen wie die, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Dass sie zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Die Kinder der Musiker hatten diese Texte, die ebenfalls als Einspieler liefen, eingesprochen.
Ein Grundgesetzmotiv in Form einer Vokalise durchzog das ganze Werk. Die Sängerin Manuela Markewitz gestaltete es zunächst aus dem Off – um bei den Stichworten Deutsche Einheit und Europa ihre Stimme dann live auf der Bühne so richtig aufblühen zu lassen. Mit einem melancholischen Prolog hatte das Musikkorps das Werk eröffnet. Das Lied »Ich hab’ mich ergeben«, im Jahr 1949 Hymnenersatz bei der Gründung der Bundesrepublik, war ebenso eingeflochten wie im weiteren Verlauf die Europahymne.
Das Wirtschaftswunder hat der 1973 im sächsischen Torgau geborene Guido Rennert im Werk vertont – die Musiker zeichneten hier klangmalerisch schwere Maschinen in den Fabriken nach – und die Aufarbeitung der Naziherrschaft in Form von mahnenden Glockenschlägen und einem jüdischen Trauergesang. Der Wechsel der Ausdrucksformen und die Eindringlichkeit, mit der hier musiziert wurde, machte die Aufführung des Werks über das Grundgesetz zum packenden Erlebnis.
Von Rennert, der im 75 Instrumentalisten umfassenden Musikkorps an der Klarinette sitzt, stammte der Großteil der Werke und Arrangements an diesem Abend. Auch die Freiheitssymphonie »Wir sind das Volk«, mit dem die Musiker der sanften Revolution vor 30 Jahren gedachten, war von ihm. Der Philharmonia Chor Reutlingen brachte sich hier eindrücklich mit chorischem Sprechen und mehrstimmigem Gesang ein. Martin Künstner hatte die Chorsätze einstudiert und war als Sänger dabei.
Würdigung Bonhoeffers
Die Parole »Wir sind das Volk« wurde vom Chor zunehmend selbstbewusst vorgetragen und in eine Aufbruchbewegung gesteigert. Das Wort »Freiheit« erblühte als zartes Pflänzchen in den Männer- und Frauenstimmen, von Harfenklängen begleitet. Schöner als am Tag der Wiedervereinigung 1990 die Politiker vor dem Reichstagsgebäude sang der Chor »Einigkeit und Recht und Freiheit«, nachdem auch hier Beethovens »Ode an die Freude« anzitiert worden war. Bläserglanz und Paukenwirbel krönten diesen Moment. Das Publikum war sichtlich ergriffen.
Als Ouvertüre hatten der Chor und das sinfonische Blasorchester zuvor das von Rennert farbig orchestrierte Lied »Die Gedanken sind frei« gestaltet. Über einem wiegenden Rhythmus hatten sich dabei Vehemenz und Entschlossenheit entfaltet. »Kein schöner Land« kam in derselben Besetzung milde und beseelt daher.
Stephen Melillos Stück »In The Darkest Darkness (… Shines Your Light)« wollte das Musikkorps der Bundeswehr ganz im Sinne des amerikanischen Komponisten als Würdigung Dietrich Bonhoeffers und anderer Widerständiger in dunkelsten Stunden verstanden wissen. Die sich langsam steigernde Intensität und Dramatik gerieten eindrucksvoll. In den Hörnern vermeinte man die Suche nach Trost und Wahrhaftigkeit zu vernehmen. Ähnlich wussten Flöte und Saxofon zu berühren. Das Werk endete leise, aber nicht resignierend. Das Musikkorps hat angekündigt, in zwei Jahren wieder nach Reutlingen zu kommen. Aus Sicht des Publikums gerne wieder mit derart fesselnder, vielschichtiger Musik! (GEA)