REUTLINGEN. »Ich weiß, was mit dir los ist. Du hast panische Angst, ohne Kind leben und sterben zu müssen. Irgendwann ohne Spur zu gehen. Keine Verbündeten auf dieser Welt zu haben, die dich bedingungslos lieben.« Sie spricht zu einer vorgestellten Leidensgenossin, einer, die empfindet wie sie selbst. Sie möchte ihr ins Ohr flüstern. Sie möchte gemeinsam mit ihr in Stücke gerissen werden, vom selben Raubtier.
Da ist die Frau mit dem Kinderwunsch, die schließlich doch schwanger wird – und das Kind verliert. Da ist die Frau, deren Vater ganz allmählich der Demenz anheimfällt, bis er dann schließlich, wirklich, faktisch, beginnt, zu sterben. Ist es ein und dieselbe Frau? Das Stück, das Chrysi Taoussanis am Donnerstagabend (und an weiteren Tagen) als Gastspiel in der Tonne spielt, lässt es offen. Die Schauspielerin, Mitglied des Tonne-Ensembles, hat es selbst verfasst. »Für mich ist das dieselbe Person in unterschiedlichen Momenten ihres Lebens«, sagt sie. Die Identität liegt nahe, ist aber nicht zwingend. Chrysi Taoussanis spielt beide Frauen; im Wechsel der Szenen verkörpert sie die eine, die andere, stellt zwei Formen des Schmerzes, die sich ähneln, in einem collagenhaften Spiel nebeneinander.
Zwei Verlustgeschichten
Der »uneindeutige Verlust« (»ambigious loss«) ist ein Begriff aus der Therapie und Trauerarbeit, bezeichnet das Gefühl des Verlustes, das noch da ist oder nie wirklich da war – der Vater, dessen Körper weiterlebt, dessen Geist gegangen ist, das Kind, das für die Mutter schon Gestalt angenommen hatte, ehe es starb. Chrysi Taoussanis hat solche Verlustfälle bei Menschen in ihrem Umfeld beobachtet. Sie erzählt zwei Geschichten zugleich, gegeneinander – eine am Beginn eines möglichen Lebens, eine am Ende eines tatsächlichen. Die Schauspielerin breitet sehr eindringlich ein großes emotionales Spektrum aus, denn diese Geschichten, die Bilder, in die sie die Trauer umsetzt, die Strategien, mit denen die Erzählfigur sie zu meistern versucht, können auch zu Momenten bestürzender Komik führen: eine von Karin Eppler inszenierte Tour de Force, die Chrysi Taoussanis facettenreich, mit großer Ausdruckskraft durchläuft.
Sie benötigt dazu wenige Utensilien – da ist ein Tisch, sind ein paar Sitzelemente, mehr nicht. Zur Seite sitzt Bernhard Mohl, Musiker, spielt auf Gitarre und Glockenspiel. Taoussanis wird zur Ärztin, die den Vater betreut, zur Gynäkologin, die die Fehlgeburt erläutert, oder die geringen Chancen, die bestehen für die Frau, ein Kind zu bekommen: »Sie sind gesund. Aber alt. Ihr AMH-Wert – Ani-Müller-Hormon, ganz böses Wort - ist unterirdisch. Der schickt uns eine Art Fax aus dem Unterleib, wo drauf steht, wie es um die Qualität ihrer Eizellen bestellt ist. Das Gute an der Sache: Sie brauchen mit dem Wert nicht mehr verhüten. Ist doch auch was.«
Hilflosigkeit und Egozentrik
Und der Vater, der das Gedächtnis verliert, scheint manchmal erstaunlich hell – und dann wieder nicht, wenn er sich selbst mit einem jungen Mann verwechselt, die Tochter nämlich mit seiner Frau, und sie also schwängern möchte. »Wir wollten doch ein Kind zusammen!«, klagt er. Schwere Dinge leicht zu machen, ist eine Kunst, und »Songs of a Shrimp« ist ein gelungener, auf eigene Weise anrührender Abend, der das Drama aufzeigt, die uneindeutig Hinterbliebene in ihrer Hilflosigkeit, Egozentrik porträtiert. Seinen Titel verdankt er einem Bild, das Chrysi Taoussanis sich ausgedacht hat: Das ungeborene Kind im Ultraschall, die zerstückelten Embryonen, die der Vater im Wahn irgendwann auf seinem Bettlaken zu erblicken glaubt: Sie gleichen beide Garnelen – »mit Mützchen.«
»Papa«, sagt die Tochter, »wer bin ich denn, wenn du nicht mehr da bist?« – »Madame, ihre Fragestellung ist sicher sehr interessant, aber ich muss mich jetzt aufs Sterben konzentrieren.« Irgendwann kommt der Frühling wieder, der Lebenskreis schließt sich. Die Oma weiß Bescheid: »Schau dich doch mal um: Die Welt ist voller Menschen!« (GEA)