TÜBINGEN. Man kann die neue Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle auch einfach als knallbunte Gute-Laune-Packung gegen die Corona-Depression sehen. Da hat der Künstler Daniel Knorr gar nichts dagegen – beim Presserundgang am Freitagmorgen rückt er seine Farbspiele sogar selbst in die Nähe einer Krisenmedizin. Faltenwürfe aus neonbuntem Kunstharz hängen da an der Wand. Ein autoförmiges Objekt ist komplett mit Farbe besprenkelt. Im Hauptsaal reihen sich flache bunte Wandobjekte. Einfach Spaß fürs Auge.
Und doch viel mehr. Denn wer den Hintergründen der Arbeiten nachspürt – das ist mit den Texten an der Wand nicht schwer –, erschließt sich einen weiteren Spaßfaktor. Daniel Knorr, in Rumänien geborener, in Berlin lebender Künstler, macht Konzeptkunst. Bei vielen anderen würde hier der Trockene-Theorie-Alarm anspringen. Doch Knorrs Konzeptkunst ist gewitzt und hat hohen Schauwert – und überall verbirgt sich eine Geschichte.
Mit Harz ausgegossene Pfützen
Die Objekte im Hauptsaal etwa sind ausgegossene Pfützen. In Los Angeles fiel Knorr auf, dass die Straßen uneben sind. Seither formt er überall auf der Welt solche Unebenheiten ab (mit Modelliermasse aus der Zahntechnik!) und füllt im Studio die Vertiefung mit Schichten aus buntem Kunstharz. Selbst Mondkrater hat er so mit Harz ausgegossen. Die Abdrücke hat er begreiflicherweise nicht selbst besorgt, sondern als Datensatz von der Nasa-Homepage heruntergeladen.
Das gesprenkelte Auto aus zusammengezimmerten Leinwänden wiederum ist auf der Kunstmesse Art Basel entstanden. Dort hat er einen Teil einer Autowaschanlage aufgebaut und mit Acrylfarbe statt mit Wasser betrieben. Tagelang wurden damit Auto-Objekte »bemalt«.
Die Faltenwürfe in Kunstharz waren erst faltige Mal-Leinwände, die Knorr mit Kunstharz abgegossen und übermalt hat. Teils nahm er berühmte Werke zum Vorbild. Sodass nun die »Desmoiselles d’Avignon« von Picasso in zerknautschter Form an der Wand hängen. Ihn erinnere das daran, dass Picasso Sexarbeiterinnen als Modelle genommen habe, sagt Knorr. Die zerknautschte Form als Symbol »zerknautschter«, von Ausbeutung geprägter Lebensverhältnisse. Knorrs Arbeiten seien für viele Deutungen offen, betont Kunsthallenleiterin Nicole Fritz.
Sie musste bei Knorr erst Überzeugungsarbeit leisten für seine erste Überblicksausstellung überhaupt. Einem musealen Rückblick konnte er erst nichts abgewinnen. Schließlich Gott sei Dank doch. Sonst hätten wir den mit Spiegelfolie ausgekleideten Raum nicht kennengelernt, der wirkt wie ein psychedelisches Pop-Art-Aquarium. Die Objekte, die zwischen den Spiegelfolien hängen, sind eingefärbte Ausschussstücke einer Recycling-Anlage in Hongkong. Ursprünglich hat Knorr sie in einem kleinen Raum in einer Ladenpassage in Hongkong gezeigt – glitzernde Zivilisationskritik.
Maskierte Würdenträger
So taucht man in immer neue Welten ein. Krieg, Klimawandel oder politische Entscheidungen – alles wird zum Spiel mit Bildern und Symbolen. Auf der Documenta in Kassel ließ Knorr aus einem markanten Turm »weißen Rauch« aufsteigen (eigentlich künstlicher Nebel aus Wasser und Glycerin). In Kopenhagen maskierte er die Köpfe von Statuen und machte damit Würdenträger zu Finstermännern. Und bei der Kunstbiennale 2005 in Venedig ließ er den rumänischen Pavillon unter dem Titel »European Influenza« schlicht leer. Wer damals nicht verstanden hat, was damit gemeint sein könnte, bekommt im Moment die Auflösung von der Realität serviert. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »Daniel Knorr – We make it happen« ist von diesem Samstag, 27. Juni, bis 20. September in der Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr. Beim Besuch ist eine Alltagsmaske zu tragen. Vernissage gibt es wegen Corona keine, der Künstler ist an diesem Samstag aber anwesend.