REUTLINGEN. Ernst Bloch hat ihnen den Namen gegeben. Und mit dem Schlusswort aus dessen »Prinzip Hoffnung« wollte der Tübinger Chor ihn bei seinem Konzert am Freitagabend im voll besetzten Reutlinger franz.K auch ehren, ihn, den Philosophen einer linken, marxistischen Utopie, der 1977 hochbetagt in seinem Tübinger Exil starb. Die Realsozialisten in der DDR hatten ihn verfemt und vertrieben. »Heimat« heißt dieses letzte Wort, »wo noch niemand war«. Aber sie scheine jedem in die Kindheit. »Wo es auch sei – ein etwas anderer Heimatabend« lautete der Titel.
Das Intro hatte Anne Tübinger geschaffen, die Dirigentin: ein leicht verfremdetes, immer wieder fugiertes Medley aus Heimatliedern vom Lindenbaum, dem hellen Saalestrand und dem schönstem Wiesengrunde bis hin zu Woody Guthries amerikanischer Folk-Anthem »This Land is Your Land«. Auch eine türkische Freiheits-Hymne (»Ey Özgürlük«) und eine Liedfassung des Sponti-Spruchs der deutschen 68er-Rebellen (»Unter dem Pflaster liegt der Strand«) intonierte der an Köpfen noch starke, aber vielleicht etwas überalterte Chor; und ein leicht manieriertes Arrangement der »Kinderhymne«, die Bert Brecht und Hanns Eisler, im selben Rhythmus übrigens, als Gegenentwurf zur beschädigten und beschmutzten »Über-alles«-Hymne schufen.
Rebellen-Romantik
Es war eine Art Varieté, ein wenig geschützt unter einem Glasdach links-humanistischer Nostalgie, was das Team da zusammengestellt hatte; mit allerhand Texten wie Halit Ülals »Es ist anders hier«, mit etwas Kabarett wie »Mir im Süden«, Proseminar-Plauderei aus dem Bloch-Seminar oder einer Satire aufs Netz als neuer Heimat, mit Rebellen-Romantik wie der von Rio Reiser, lyrischen Träumereien von Hilde Domin über Mascha Kaleko bis Rose Ausländer und bis zu jiddischer Schtedtl-Sehnsucht (»Belts«) und einem der Zukunft zugewandtem zionistischem Aufbruch nach der Shoah (»Gelobtes Land«). Reinhard Mey war dabei, der so lang von links als eher rechts unterschätzte Lieder-Poet, der Renegat Wolf Biermann und natürlich John Lennon mit einer wiederum etwas verschmockten »Imagine«-Version.
Anne Tübinger hatte einige Eigenkompositionen beigesteuert, die nicht zu zwölftönig komplex waren in ihren modernen Mitteln, nicht zu weit weg von tonaler Bindung, aber nicht nur in den Fugati doch sehr versiert in klassischen Tontechniken und mit einer schönen Klarheit, aber ohne zu viel Pathos in der musikalischen Rhetorik. Gerade bei diesen etwas widerständigeren Stücken zeigte der Chor unter den genauen und suggestiven Zeichen seiner Dirigentin auch eine hohe Präzision und rhythmische Prägnanz, während bei manchen eher leichten, eingängigen oder fast volkstümlichen Nummern ein bisschen mehr Stimmbildung und Klangkultur ganz gut getan hätten. (GEA)