REUTLINGEN. Nicht einfach, diese Musik einzuordnen. Mal klingt sie herb und sperrig, mal spätromantisch verwoben, dann wieder erinnert der Jazz von Root 70 an Nils Wograms großes Vorbild, das Albert Mangelsdorff Quartett der späten 1960er-Jahre. Bei ihrem Auftritt am Dienstagabend im gut besuchten Reutlinger Pappelgarten stellte die deutsch-neuseeländische Formation um Nils Wogram ihr neues Album »The Pristine Sound Of Root 70« vor. Einmal mehr zeigte sich: Der Braunschweiger Posaunist hat mit seiner seit 23 Jahren bestehenden Band einen unverwechselbaren Sound und eine ganz eigene Sprache entwickelt.
Polyrhythmische Strukturen und dynamische Feingliederungen, feinsinnige Exkurse der Geläufigkeit und sorgsam integrierte Momente der Reduktion verschaffen den Kompositionen von Beginn an eine musikalische Dramaturgie, die trotz weitschweifiger Solopassagen die Spannung der Stücke stets auf die Spitze treibt. Das liegt an Wograms musikalischer Präsenz, aber auch an der Aufmerksamkeit seiner Begleiter. Denn Jochen Rückert am Schlagzeug und vor allem der neuseeländische Altsaxofonist Hayden Chisholm schaffen ein komplex in sich verschränktes Netz, das sein Landsmann, der Kontrabassist Matt Penman, mit inspirierter und trocken volltönender Klanggestaltung um eigenständige Impulse erweitert.
Raumgreifend wie ein Gepardengalopp
Meist sind es ausgefeilte Strukturen, die inmitten des jazzigen Umfelds entwickelt werden. Ob das von der Schweizer Winterlandschaft inspirierte »Perfect Snow«, das wunderschöne, fast meditative »Beatrice’s Rituals« oder das mit einem starken Blues- und Swingfeeling ausgestattete »Kairos«. Was sich allein im Bläsersatz, besetzt mit dem in Zürich lebenden Nils Wogram und Saxofonist Hayden Chisholm, abspielt, zeugt von einer Fülle an Intonationsdetails, die in die Form effektvoller Arrangements gefasst werden. Vielversprechend und filigran, dabei raumgreifend wie ein Gepardengalopp wird das frappierend komplex präsentiert. Gleichwohl setzt Wogram bei den neuen Titeln weniger auf freitönerische Elemente, sondern greift gerne auf Verweise aus der Vergangenheit zurück. Dabei lehnt sich die Musik von Root 70 nirgends bequem an, sondern klingt eigenständig und vorbildlos.
Mal verfremdet Wogram seine Posaunensoli mit einem Trichter, oder er begleitet die Melodieführung von Saxofonist Chisholm mit einem Harmonium. Mal klingen die Eigenkompositionen des neuen Albums hochkomplex, dann wieder sehr melodiös. Sie erinnern an Altes, aber, und das ist das Entscheidende, sie kopieren es nicht. Nichts an Nils Wograms Musik ist fest, sie muss gesucht, gefunden werden. Am Ende gibt es zwei Zugaben – davon eine als Dank an Veranstalter Tobias Festl – und das Versprechen: »Wir kommen wieder!« (GEA)