REUTLINGEN/DUGORT. Ein Schaf, das im Gras vor sich hin döst, und eine Möwe, die geradewegs vor Richtung Meer segelt. Das ist das Erste, was ich sehe, als ich in Dugort am Schreibtisch sitze und aus dem Fenster blicke. Umrahmt von irischem Himmel, jeder Menge Grün, blühendem Rhododendron, und natürlich darf da vorne einer nicht fehlen: der Atlantik. Er liegt gerade mal einen Wimpernschlag entfernt.
Das alles hat Heinrich Böll vor 60 Jahren hier genau so gesehen. Und vielleicht hat er neben sich auch ein Tässchen Tee stehen gehabt, und dann angefangen, zu tippen. Das Cottage, in dem er mehrere Jahre die Sommermonate mit seiner Familie verbracht hatte, ist ein Ort, in dem ein Zauber wohnt, der sich sanft um einen legt, sobald man die ersten Schritte durchs Haus macht. Man kann nichts dagegen tun. Nicht nur, weil Heinrich Böll ein toller Schriftsteller war; einer, mit Rückgrat und Witz und einem natürlichen Geerdetsein. Sondern auch, weil dies ein Ort voll tiefer Ruhe ist, das Haus mit viel Liebe und Feinsinn modernisiert worden ist, eingebettet in eine Landschaft, die, im Gegensatz zum Cottage, noch nie Restaurierungsarbeiten nötig hatte.
Ich war 18, als ich zum allerersten Mal auf der grünen Insel ankam. Während die Fähre langsam auf den Hafen von Rosslare zufuhr, spürte ich, dass da ein Gegenstück war, das mir gefehlt hatte. Der Tag von damals ist für mich noch heute der Inbegriff von Ankommen. Selten bin ich irgendwo so klar angekommen wie 1988 an der irischen Ostküste. Mittlerweile bin ich zum zehnten Mal in diesem Land, meistens hier im Westen, aber noch nie saß ich an einem Fenster wie diesem. Einem Ort, an dem so viel vereint scheint an Wohlgefühl, dass es überhaupt kein Problem ist, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind: Draußen im Gras döst eine Möwe, während ein Schaf geradewegs Richtung Meer fliegt. Genau so, wie es sein muss. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, genau wie dem Atlantik über mir. Er ist gerade mal einen Flügelschlag entfernt.
René Böll, einer von Heinrich Bölls Söhnen und selbst Künstler geworden, hat hier zusammen mit seinen beiden Brüdern einige Kindheitssommer verbracht, die ein Leben lang nachwirken. Anlässlich des jährlichen Heinrich-Böll-Memorial-Weekends hat er im letzten Jahr einen virtuellen Rundgang mit den Online-Besuchern gemacht und erzählt, wie er und seine Brüder damals jeden Tag ans Meer gelaufen seien, um Boot zu fahren. An der Wand neben mir hängt ein Brief, den Heinrich Böll 1955 an seine Eltern in Deutschland geschickt hat. Die Kinder seien glücklich, schrieb er, die Landschaft wundervoll, alles sei friedlich; es habe jetzt zwar den ganzen Tag geregnet, aber das mache keinem etwas aus, denn das Wohnzimmer sei gemütlich und warm. Seine einzige Sorge sei die kaputte Schreibmaschine.
Die Böllsche Familie saß um den knisternden Kamin, und ich stelle mir vor, wie das damals mit seiner kaputten Schreibmaschine gewesen sein könnte. Vielleicht waren ein paar Buchstaben verbogen? Vielleicht haben einfach ein paar Vokale geklemmt? Möglicherweise konnte er nicht mehr »Amerika« schreiben oder »Schaf«? Und hat sich übergangsweise mit »Omerika« ausgeholfen. Oder statt einem Schaf eben einfach eine Möwe im Gras dösen lassen. Dem Geschichtenerzählen ums Feuer hat die kaputte Schreibmaschine vermutlich keinen Abbruch getan.
»Ich muss mich gefühlt fünfzig Mal kneifen«
Ich erinnere mich an die kleinen Geschichten, die ich meinen Töchtern immer erzählt habe, als sie noch jung waren. Es ging um einen Bären und einen Hamster. Oder, mit klemmenden Buchstaben: einen Bören und einen Homster. Jeden Tag aufs Neue gingen die beiden Freunde ihre Tante besuchen, bei der es stets frischen Erdbeerkuchen gab. Egal, zu welcher Uhrzeit sie auch klingelten. Hin und wieder war die Tante nicht da, aber dann wartete zumindest ein Zettel auf die beiden: »Bin verreist. Erdbeerkuchen im Kühlschrank!«
Ungefähr so fühle ich mich immer, wenn ich in Irland ankomme – als ob jedes Mal ein Zettel bereit liegt, auf dem jemand mit lieben Worten geschrieben hat: »Hallo Jochen. Erdbeerkuchen im Kühlschrank!«
ZUR PERSON
Jochen Weeber, geboren 1971 in Vaihingen an der Enz, aufgewachsen in Sersheim, lebt in Reutlingen. Er schreibt Prosa und Hörspiele für Kinder und Erwachsene, wofür er unter anderem das Literaturstipendium Schwaz und das Stipendium Esslinger Bahnwärter erhielt. Sein Buch "Herr Lundqvist nimmt den Helm ab" stand 2016 auf der Shortlist zum Thaddäus-Troll-Preis. Jochen Weeber spielt Akkordeon und moderiert im Reutlinger Kulturzentrum franz.K die Poetry-Slam-Reihe "Poesie & Pommes". In der vergangenen Woche hat er im Echaz-Hafen ein deutsch-ukrainisches Kinderkulturfest organisiert. (GEA)
Als ich im Heinrich-Böll-Cottage in Dugort eintreffe, warten Cathleen und John auf mich. Die beiden sind vom achtköpfigen örtlichen »Böll Committee«, das sich, neben dem jährlichen Memorial Weekend, auch um den »Artist in Residence« kümmert, der jeweils für zwei Wochen im Cottage lebt. In den Bücherregalen stehen Bücher über Irland, über Achill Island und Heinrich Böll (und natürlich etliche von ihm selbst!). Dazwischen jede Menge Bücher der Autoren, die im Laufe der 30 Jahre seit Eröffnung der Künstlerresidenz hier sein durften; Judith Hermann, Jan Wagner oder Peter Stamm zum Beispiel, ebenso eine Menge englischsprachige Autorinnen und Autoren, und mit Eva Christina Zeller ist auch eine Lyrikerin aus Tübingen dabei.
Cathleen und John meinen, es wäre sinnvoll, das Gatter stets geschlossen zu halten, sonst stünde mir nichts, dir nichts der ganze Hof voll mit Schafen. Und wenn ich hinten im Arbeitszimmer schreiben würde, solle ich am besten vorne die Haustüre zumachen – sonst stünden mir nichts, dir nichts neugierige deutsche Touristen in meiner Küche.
Sie berichten, dass René Böll erst im Mai einige Wochen hier war, um zu arbeiten. Und dass ich mich jederzeit an sie wenden kann und soll und darf. Sie strahlen so viel irische Herzlichkeit aus, als hätten sie früher, als sie klein waren, an verregneten Tagen auch stundenlang daheim mit ihrer Familie um ein knisterndes Torffeuer gesessen.
Als die beiden weg sind, muss ich mich gefühlt fünfzig Mal kneifen: Ich bin hier. Ich bin tatsächlich hier. Hey ihr Schafe, hey Möwen, hey Omerika – das ist ganz großes Kino hier. Ich öffne das Fenster und halte inne. Erdbeerkuchen, soweit das Auge reicht. (GEA)