TÜBINGEN. Es beginnt mit einer Irritation, noch bevor die Schauspieler erscheinen: In jenen kubisch verschachtelten weißen Räumen, die Valentin Baumeister baute für »Im Taumel des Zorns«, die Reihe, mit der das Zimmertheater Tübingen in seiner aktuellen Spielzeit anknüpft an das Phänomen der Fernsehserien, steht ein Waschtrog aus Blech auf einer Kuhhaut, ziemlich rustikal, daneben etwas, das ein Waschbrett sein könnte. In einem anderen weißen Viereck steht eine alte Kaffeemühle. Der Ort der Handlung ist nach wie vor die Apotheke eines Krankenhauses. Wie kommen diese Dinge dorthin?
Dann sind die Schauspieler auf der Bühne, die Anordnung des Bühnenbildes ändert sich – zur Linken bleibt sie noch annähernd geschlossen, zur Rechten fliehen die beweglichen Raumelemente ungeordnet in die Tiefe, bilden Nischen, die nicht ganz einsehbar sind. In einem dieser Winkel steht nun die Blechwanne, und Merit Tiefenbrunn, zuvor die scheinbar brave Helferin der ehemaligen Apothekenleiterin Cecilia Zymny, rammt den Kopf ihrer Chefin in die Wanne: Waterboarding, Folter. Ein kruder Auftakt, der selbst das Serien-Intro mit der Musik von Konstantin Dupelius und Justus Wilcken zerreißt. Was ist los?
Wahnhafte Züge
Schon gegen Ende der vierten Episode von »Im Taumel des Zorns« ließ Merit Tiefenbrunn ihre Maske fallen, entpuppte sich als heimliche Komplizin der krebskranken Apothekenräuberin Holle Toepfer, offenbarte außerdem bösartig wahnhafte Züge. Merit Tiefenbrunn steht nun im Mittelpunkt der fünften Episode; die ungewöhnlichen Requisiten werden ihr zugeordnet.
Seraina Löschau spielt Merit Tiefenbrunn mit dem Funkeln der irrsinnigen Bosheit auf ganz und gar beängstigende Weise. Merit wuchs auf dem Land auf. Keine schöne Zeit, die sie dort hatte. Mutmaßlich schlug sie ihr aufs Gemüt, oder erbliche Faktoren tragen die Schuld. Cecilia Zymny ist nur noch ein nasses blutiges Gesicht im Unterhemd.
Dämonische Präsenz
»Verbrechen und Versprechen« ist Titel der Episode; Magdalena Schönfeld als Hausregisseurin am Zimmertheater inszenierte. Autorin Hannah Zufall setzt auf harte Kontraste, lässt Witz auf schiere Brutalität prallen, schrieb die bislang auf das Extremste zugespitzte, grellste Episode der Reihe. Eva Lucia Grieser als Holle, Cyril Hilfiker als Enno, Morris Weckherlin als Ove und Lauretta van de Merwe als Cecilia brillieren wie bislang; Seraina Löschau beherrscht mit einer geradezu dämonischen Präsenz das Geschehen. Sie erweist sich als Stalkerin, die alles über Ennos Online-Dating weiß, weil sie dort selbst mitgemischt hat, unter falschen Namen, und sorgt so für einige der komischen Momente der neuen Episode.
Alle lassen sich herab auf alle Viere und ziehen muhend umher, erleben ihre ungezähmte Tierwerdung. Merit erzählt von ihrem Heimatdorf, erzählt von gebärenden Kühen, von der Schlachtung, vom Nachbarn, der Sex mit einem Kalb hatte. Von der Decke hängen Flaschen, die einen Euter darstellen; Ove und Enno führen im Hintergrund eine Pantomime auf.
Wurst in der Apotheke versteckt
Merit erscheint geradezu als Nemesis der Apothekengesellschaft. Sie brüllt: »Hier versteckt sich jetzt keiner mehr in der Masse.« Sie selbst kennt Bücher zur Darmhygiene, und sie höhnt, als Enno aus Heinrich von Kleists Schrift über das Marionettentheater zitieren möchte: »Vielleicht ist das Leben einfach komplett absurd, und wir alle tanzen an Fäden, die wir nicht verstehen.« Das Schlimmste aber: Merit, die eben noch davon erzählte, wie sehr sie die Schlachtung auf dem heimischen Bauernhof einst traumatisierte, hat jede Menge Wurst versteckt in der Apotheke und verzehrt sie genüsslich.
»Verbrechen und Versprechen« ist krude, dynamisch, voll von bösem Witz, ein Schlag in die Magengrube. Clemens Mergers Lichtregie lässt die einzelnen Szenen in den verwinkelten Bühnensegmenten hervortreten. Holle zeichnet Striche und Anti-Smileys mit rosa Stift auf die weißen Wände. Ein Kampf zwischen Merit und Cecilia findet statt. Die Folge endet, wie schon eine der vorhergehenden Episoden, mit einem Knall. Nur dieses Mal trifft die Kugel, und eine der Hauptfiguren liegt blutüberströmt auf der Treppe. Zwei weitere Episoden werden folgen – nach dieser ist wieder einmal alles anders. Das Publikum bleibt zurück, erstaunt in jeder Hinsicht. (GEA)