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Ein stilles Requiem

REUTLINGEN. 10 654 Figuren sollen es einmal werden. 10 654 Figuren, die für ebenso viele Ermordete, für eine kaum fassbare Zahl von Einzelschicksalen stehen. Mit einer »gewissen Naivität«, bekennt Jochen Meyder, habe er begonnen, kleine Figuren für die Opfer von Grafeneck zu modellieren, um plastisch zu machen, dass es sich um Menschen handelte, die im Jahr 1940 – abgestempelt als »lebensunwertes Leben« – in Nazideutschland getötet wurden.

Jochen Meyder hat sich vorgenommen, jedem Opfer von Grafeneck eine Figur zu widmen, die später einen Paten finden soll.   GEA-FO
Jochen Meyder hat sich vorgenommen, jedem Opfer von Grafeneck eine Figur zu widmen, die später einen Paten finden soll. Foto: Christoph B. Ströhle
Jochen Meyder hat sich vorgenommen, jedem Opfer von Grafeneck eine Figur zu widmen, die später einen Paten finden soll.
Foto: Christoph B. Ströhle
Mittlerweile ist ihm bewusst, dass sich eine Menge »schnell denkt, schneller, als sie erstellt ist – die 10 654 Figuren sollen ja nicht vervielfältigt werden; jede Figur soll ihre Individualität erhalten«, formuliert der in Münsingen-Dottingen lebende Künstler seinen Anspruch. Vier Jahre, so hat er ausgerechnet, wird ihn diese Erinnerungsarbeit noch beschäftigen.

Weiße Papierbahnen

Ein Zwischenstand mit 2 000 Figuren, die der im Jahr der »Euthanasie«-Morde Geborene zu einer Installation verbunden hat, sind seit Mitte Januar in der Reutlinger Produzentengalerie Pupille zu sehen. Nicht mit drastischen Bildern den Schrecken des industriell betriebenen Massenmords neu zu beschwören, sondern auf behutsame Art eine Art stilles Requiem zu orchestrieren, darauf kommt es ihm an.

Wie ein riesiges Totenhemd wirkt die viereinhalb mal viereinhalb Meter große Styroporfläche – in T- beziehungsweise in Kreuz-Form –, auf die Meyder die etwa 20 Zentimeter großen Figuren gebettet hat. So als schliefen sie, einander an Kopf, Schultern und Füßen sachte berührend. Die T-Form gelte in der ägyptischen Mythologie als Lebenszeichen, erklärt Meyder, während in der Kreuz-Form Leiden und Trauer anklingen. Schlichte weiße Papierbahnen hängen von oben herab auf die Figuren. Leichenbinden? Schleier des Vergessens?

Alle Tonfiguren haben ihren Ausdruck, der sich zu verschiedenen Tageszeiten und mit unterschiedlichen Lichtverhältnissen im Raum verändert – und mit der Aufmerksamkeit, die man ihnen entgegenbringt.

Lektüre von Briefen

Während er an den Figuren arbeite, lese ihm seine Lebenspartnerin Annegret Schock aus Grafeneck-Dokumenten vor, aus Briefen jener Tage etwa, in denen Angehörige darum bitten, ihr Kind zurückzubekommen, sagt Meyder. So sei auch sie Teil des Projekts.

Meyder plant mit der Gedenkstätte Grafeneck eine Ausstellung, wenn alle 10 654 Figuren, die an die Opfer erinnern, fertig sind. Sein Wunsch ist, dass am Ende die Besucher aus der Menge heraus jeweils eine Figur mit nach Hause nehmen, damit ein Opfer posthum würdigen, ja gewissermaßen eine Patenschaft übernehmen. Damit keines der Opfer vergessen wird. (GEA)