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Die Straße lebt

Das Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen zeigt die materialreiche Ausstellung »Street Life«

Ernst Ludwig Kirchners Gemälde "Straße mit Passanten bei Nachtbeleuchtung" von 1926/27, zu sehen in der Ausstellung "Street Life
Ernst Ludwig Kirchners Gemälde »Straße mit Passanten bei Nachtbeleuchtung« von 1926/27, zu sehen in der Ausstellung »Street Life« in Ludwigshafen. Foto: Museum Frieder Burda
Ernst Ludwig Kirchners Gemälde »Straße mit Passanten bei Nachtbeleuchtung« von 1926/27, zu sehen in der Ausstellung »Street Life« in Ludwigshafen.
Foto: Museum Frieder Burda

LUDWIGSHAFEN. Straßen sind multifunktional: gebaute Verbindungslinien zwischen A und B; in Fußgängerzonen und Einkaufsmeilen ein Display der Angebote von Einzelhandel und Gastronomie; zwischendurch auch mal Schauplatz von Umzügen und Paraden, Kundgebungen und Demonstration – oder illegalen nächtlichen Autorennen. Straßen sind mit einem Wort eine Bühne des Lebens und als solche voll von Zeichen und Codes. Nirgendwo sonst treffen unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen so unmittelbar aufeinander.

Die Ausstellung »Street Life« im Wilhelm-Hack-Museum nimmt den Besucher mit auf einen Spaziergang durch die Straßen und Gassen von der Moderne bis zur Gegenwart. Rund 160 Gemälde und Zeichnungen, Druckgrafiken und Skulpturen, Installationen, Fotografien und Videos hat Kuratorin Astrid Ihle in einen abwechslungsreichen Parcours gepackt.

Beliebtes Motiv der Moderne

Seit der Moderne, die die Hektik urbanen Lebens zum Thema der Kunst machte, ist die Straße ein häufiges Motiv; man denke an die Straßenszenen der Pariser Impressionisten oder Ernst Ludwig Kirchners Straßenszenen mit Passanten und Kokotten. In Max Ernsts Gemälde »Porträt« 1913 taucht ein im Strudel der Eindrücke beinahe verschwindendes weibliches Gesicht auf. Weniger diese flüchtige Figur porträtiert Ernst als vielmehr das großstädtische Straßenleben selbst. Die Straße – eine Sinfonie synästhetischer Eindrücke, audiovisuell und olfaktorisch.

In Bildern der Expressionisten erscheinen urbane Zentren wie Berlin und München dann als Orte der Entfremdung. In der Collage »Metropolis« aus Zeitungsausschnitten und Bildpostkarten gestaltete der Niederländer Paul Citroen 1923 die Großstadt als Moloch aus Wolkenkratzern und Straßenschluchten.

Ein Chaos von Eindrücken verdichtet sich auch in George Grosz’ Gemälde »Straße in Berlin« von 1931. Als Zeichner und Druckgrafiker ist bei Grosz die Straße andererseits Bühne und Panoptikum der Gesellschaft: mit Arbeitern und Bonzen, feinen Pinkeln, Prostituierten oder Kriegsversehrten. Karl Hubbuchs Tuschzeichnung »Aufmarsch« von 1932/33 lässt neben Großbürgern, einfachem Volk und Militärs auch SA-Leute mit Hakenkreuzfahnen paradieren.

AUSSTELLUNGSINFO

Die Ausstellung »Street Life. Die Straße in der Kunst von Kirchner bis Streuli« ist im Wilhelm-Hack-Museum, Berliner Straße 23 in Ludwigshafen, bis 5. März zu sehen, Dienstag, Mittwoch und Freitag 11 bis 18 Uhr, Donnerstag 11 bis 20 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 18 Uhr. (GEA) www.wilhelmhack.museum/de

Bei Fotografen wie Eugène Atget und Brassai gewinnen nächtliche Straßen in Paris bisweilen einen dämonischen Touch. Im Schaufensterblick von Atgets Aufnahme »Corsets«, um 1900 entstanden, wird die Warenästhetik zum Motiv. Dagegen fängt der Berliner Fotograf Friedrich Seidensticker in Aufnahmen der frühen 1930er neben Motiven wie in »Schaufensterdekoration mit Gamaschen« vor allem Straßenszenen ein – ähnlich der US-Amerikanerin Helen Levitt, einer Vertreterin der Street Photography.

»Das Theater ist auf der Straße« nannte Wolf Vostell eine Décollage. Die künstlerische Technik, die auf abgerissenen politischen oder Werbeplakaten basiert, nutzten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren besonders die Pariser Affichisten. Auch der Nouveau Réaliste Arman brachte die Straßen der Stadt unmittelbar und real ins Museum – etwa in einer Kiste aus Holz und Glas mit Objekten wie Zeitungen, Stroh und einem Bleistift. Ein anderer Schaukasten enthält Spielzeugautos – und darin bildlich den Hauptakteur unserer Straßen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts: das Automobil.

Ort von Protest und Aktion

Autos versperrten Christo und Jeanne-Claude 1961 in einer Einbahnstraße in Paris mit einer Aktion und Installation den Weg, indem sie sie mit Ölfässern blockierten. Mit der Studentenbewegung wurde die Straße zum Ort von Demonstrationen und Straßenkämpfen der Protestierenden mit der Polizei. »Die Schönheit ist auf der Straße«, erklärte im Pariser Mai 1968 das Atelier Populaire in einem Siebdruckplakat mit dem Motiv einer jungen Frau, die einen Pflasterstein wirft.

Im selben Jahr führte Valie Export den auf allen Vieren sich fortbewegenden Peter Weibel in einer die patriarchalischen Verhältnisse der Zeit in aller Öffentlichkeit ironisch umkehrenden Aktion an der kurzen Leine durch die Straßen Wiens Gassi. Schon früher hatten Graffiti-Sprayer die Straße als ihr Wohnzimmer entdeckt: ihre öffentliche Leinwand. Beat Streulis Fotocollage »World City« (2022) breitet einen Querschnitt durch die multikulturelle urbane Gesellschaft der Gegenwart vor uns aus. Die Schattenseite bringt Jeff Wall ins Bild: Eine Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt einen unter Pappe nächtigenden Wohnungslosen. (GEA)