REUTLINGEN. Es ist eine ungewohnte Betrachtung des Passionsgeschehens, die der Kammerchor der Musikschule Reutlingen unter der Leitung von Susan Eitrich am Gründonnerstagabend in der Reutlinger Auferstehungskirche bietet. Dietrich Buxtehudes Kantate »Membra Jesu nostri«, auf Deutsch: »Die Glieder unseres Herrn Jesus«, versenkt sich in eine Meditation über Schmerz und Erlösung anhand des Körpers des gekreuzigten Heilands. Das Stück arbeitet sich dabei von den Füßen und Knien des Gekreuzigten über Hände und Brust bis zu Herz und Antlitz vor.
Es ist, im Unterschied zu seinem berühmten Schüler Johann Sebastian Bach, keine dramatische oder opernhafte Schilderung, die der Lübecker Meister dabei bietet. Stattdessen atmet seine Musik eine berührende Intimität. Das Liedhafte der frühbarocken Madrigale schwingt bei ihm nach, die Tanzpulse der Renaissance und deren Liebe zu rhythmischen Kontrasten.
Diese Intimität und die Nähe zur späten Renaissancemusik betont die Aufführung noch, indem sie die Kantate mit zwei zart-melancholischen »Lacrimae«-Sätzen - also »Tränen« - von John Dowland rahmt. Die vier Gambistinnen des Delios-Gamben-Consorts aus Stuttgart und ihr männlicher Kollege an der Bassgambe lassen die sanften Wellenbewegungen dieser Musik als zart-transparenten Trauerschleier in den Raum wehen.
Meditative Leibesbetrachtung
Die Intimität von Buxtehudes mystisch-meditativen Leibesbetrachtungen wird hervorgehoben durch die schlanke Besetzung des Chors. Lediglich zwei Sängerinnen im ersten und zweiten Sopran und Alt sowie je zwei Sänger in Tenor und Bass formen einen schlanken, durchsichtigen und doch in den vollen Passagen prachtvollen Klang, der reizvoll zwischen solistischer Stimmfarbe und Tuttiwirkung schwebt.
Das Stück selbst hebt das Intime, zutiefst Persönliche dieser Begegnung mit dem sterbenden Christus hervor, indem jeder Abschnitt nach dem Eingangschor sofort in solistische Abschnitte gleitet. Mal sind es einzelne Sängerinnen und Sänger, die das Geschehen reflektierend vertiefen, mal sind es kleine Gruppen - ein Duo, ein Trio. Das Kammermusikalische der Anlage wird so noch gesteigert.
Susan Eitrich greift dafür nicht auf Profisolisten zurück, sondern lässt Sänger aus dem Chor nach vorn treten. Eine Herausforderung, die ihre Interpreten mit Mut und Souveränität meistern. Besonders bezaubernd ist es, wie homogen und fein ausbalanciert sich die Stimmen in den Duetten und Terzetten mischen.
Reizvolle Kontraste
In einigen Sätzen bezieht Eitrich die Gambenspieler mit ein, in anderen begleiten zwei Geigen, Barockcello und die Truhenorgel das Geschehen. Von der intimen Klanglichkeit abgesehen sind es vor allem die subtil gesetzten Kontraste, die den Reiz des Geschehens ausmachen. Elegisch klagende Passagen wechseln mit freudig pulsierenden, zart-intime mit der Klangpracht des Tuttis. Sänger wie Instrumentalisten gelingt es überzeugend, diese Kontraste auszuspielen. Der Trauer über den Tod des Heilands wird so die Freude über die Erlösungsperspektive gegenübergestellt.
Eine Perspektive, die Pfarrer Werner Mayer-Traulsen auch in seinem geistlichen Impuls betont. In seinem Leidensweg nimmt Jesus die Menschen mit auf den Weg der Vergebung. Mayer-Traulsen liest dazu die märchenhafte Geschichte eines Königs, der sich selbst in den Schmutz wirft, um einen gestürzten Gast zu überreden, trotz seiner besudelten Kleider mit auf sein Fest zu kommen. (GEA)