REUTLINGEN. Ohne den Philharmonia Chor ist die Reutlinger Chorlandschaft kaum denkbar. Er hat gemeinsam mit der Betzinger Sängerschaft mit der Classic Night Opern-Flair ins Stadion gebracht. Er hat mit Paul McCartneys »Liverpool Oratorio« und »Alexis Sorbas« von Mikis Theodorakis Raritäten wiederbelebt. Daneben war immer Platz für die großen Meisterwerke wie Bachs h-Moll-Messe.
Nun feiert der Klangkörper sein Vierteljahrhundert. Mit geistlicher Musik, so viel Feierlichkeit darf sein. Aber es darf, so will es der Geist dieses Chores, gern auch beschwingt und lebensfroh zugehen. Also setzt man auf Rossini beim Festkonzert an diesem Sonntag um 18 Uhr in der Reutlinger Wolfgangskirche, auf seine »Petite Messe solennelle«. Ein Werk, das gerade durch seine kuriose Besetzung reizt: Die Sänger begleitet dabei weder ein Orchester noch eine Kirchenorgel, sondern ein Klavier und ein Harmonium.
Aus der Pauluskantorei
Hervorgegangen ist der Philharmonia Chor aus der Pauluskantorei Sickenhausen. Die war 1993 unter Martin Künstner ein monumentaler Stimmkörper von rund 140 Sängern. Einige davon samt dem Dirigenten hätten sich mehr als die beiden jährlichen Konzerte vorstellen können – bei so einer Masse aber schwierig.
Ein skurriler Zwist kam dazu. Künstner, schon damals für Rares offen, hatte Orffs Brecht-Gesänge aufs Programm gesetzt. Das stieß einigen Konservativen in der Kirchengemeinde übel auf. Künstner: »Wir haben tagsüber Plakate aufgehängt, nachts wurden sie abgerissen.«
In der Folge machten sich rund 25 Sängerinnen und Sänger selbstständig und schlossen sich unter Martin Künstner zum Philharmonia Chor zusammen. 1994 hatte man den ersten Auftritt in Beuron. Mit Mendelssohn und Bruckner-Motetten ging man gleich in die Vollen. Weitere Konzerte folgten. 1996 kam der Chor im Zentrum der Klassik-Szene an und sang im Werkkonzert der Württembergischen Philharmonie. In der Reihe »Reutlingen vokal« organisiert er bis heute gemeinsam mit der Philharmonie Konzerte.
Auch erste Konzertreisen gab es bald, zunächst nach Italien, an den Comer See, später auch nach Mailand, Florenz und Rom. Von kleineren Malheurs ließ man sich nicht aufhalten. So geriet 1998 der Anhänger mit der Truhenorgel in Brand. Oder der Anhänger musste auf einer steilen Passstraße von Hand gewendet werden, weil er nicht durch den Tunnel passte. »So was macht doch eine Reise erst interessant«, grinst Künstner.
Als steiniger erwies sich das organisatorische Terrain. Ein Probenraum musste her. »Da gingen die finanziellen Probleme los«, seufzt Margret Reber, die von Beginn an und bis weit in die 2000er-Jahre Vorsitzende war. »Aber die Mitglieder standen auch in schwierigen Zeiten immer begeistert hinter der Sache.« Ein Förderverein musste gegründet werden, um Spenden sammeln zu können. Später wurde der Chor selbst zum Verein, in dessen Vorstand auch der Dirigent sitzt. Heute ist Monique Cantré die Erste Vorsitzende
Zur Odyssee wurde die Probenraumsuche. Man übte im Dominohaus, im Hohbuch-Gemeindehaus, im Spitalhof, im Bea-Haus, in der Morgensternschule, in der Christuskirche, in der Hofmannschule. Dauerhafteres Asyl bot, freilich bei zu niedriger Decke, das Listgymnasium. Endgültigen Unterschlupf fand man im Gemeindehaus der Mauritiuskirche in Betzingen. »Jetzt haben wir eine schöne Heimat«, findet Dirigent Künstner.
Die braucht es auch, ist der Chor doch auf 103 Mitglieder angewachsen, von denen rund 80 aktiv mitsingen. Gemeinsam hat man Meilensteine im Konzertleben gestemmt. Die Aufführungen von Karl Jenkins’ »Friedensmesse« und des »Liverpool Oratorio« etwa. Oder das Hexenverfolgungs-Oratorium »Verhör und Verheißung« des Tübingers Gerhard Kaufmann. Schließlich das wiederentdeckte Jan-Hus-Oratorium von Carl Loew: Der Philharmonia Chor sang es 2015 in Prag zum 600. Todestag des böhmischen Reformators, der 1415 auf dem Konzil in Konstanz verbrannt wurde.
Mit der deutschen evangelischen Gemeinde in Prag gibt es seither freundschaftliche Bande. 2019 ist man in den Pfingstferien in Prag und Pilsen, diesmal mit Bruckner.
Kanonenschüsse im Stadion
Viel wäre noch zu erwähnen. Der Auftritt in der »Stadtoper« mit Musik Susanne Hinkelbeins. Die Kanonenschüsse im Stadion zu Tschaikowskys Ouvertüre »1812«. Die Uraufführung von Stephan Boehme de Marcos Stück »Feuer« bei der Classic Night – bei der zum ersten und einzigen Mal das Feuerwerk nicht zündete. Künstner vermutet noch immer Sabotage.
Ein Fixtermin ist der Neujahrsauftritt in der Tübinger Stiftskirche. Diesmal wird man Beethovens Neunte geben. Am 3. Februar wird man das Stück mit der Philharmonie in der Reutlinger Stadthalle durch Beethovens Chorfantasie ergänzen. Am 4. April führt der Chor zu Ehren von 30 Jahren Mauerfall mit dem Musikkorps der Bundeswehr Guido Rennerts »Freiheitssinfonie« in der Stadthalle auf.
Die Classic Night hat der Chor nach einer grandiosen Aufführung in diesem Jahr aufgegeben, zumindest in der bisherigen Form. Zu groß, zu unflexibel, finanziell zu riskant. Man wollte auch nicht in Routine münden. 2020 würde man trotzdem gerne wieder was draußen machen, aber in einem weniger bombastischen Rahmen. Künstner schwebt der Volkspark vor, in dem sich die Hörer mit Picknickdecken auf der Wiese verteilen. Am besten bei freiem Eintritt, sofern sich Sponsoren oder Zuschussgeber finden.
An Visionen und Ideen mangelt es auch 25 Jahre nach Gründung nicht. Der Aufbruchsgeist lebt weiter. (GEA)
JUBILÄUMSKONZERT
Der Philharmonia Chor Reutlingen führt Rossinis »Petite Messe solennelle« am Sonntag, 18. November, um 18 Uhr in der Reutlinger Wolfgangskirche auf. Solisten sind Katrin Müller, Sopran, Sabine Czinczel, Alt, Philipp Nicklaus, Tenor, und Marcel Brunner, Bass. Die Leitung hat Martin Künstner. (GEA)