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Das Humboldt-Forum aus Tübinger Sicht: »Deutschland sendet fatales Zeichen«

Der Direktor des Tübinger Universitätsmuseums, Ernst Seidl, sieht das Berliner Humboldt-Forum kritisch

Das Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Berliner Schloss polarisiert – nicht zuletzt wegen der Kuppelinschrift und dem Kreuz. FO
Das Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Berliner Schloss polarisiert – nicht zuletzt wegen der Kuppelinschrift und dem Kreuz. FOTO: SOMMER/DPA
Das Humboldt-Forum im wiederaufgebauten Berliner Schloss polarisiert – nicht zuletzt wegen der Kuppelinschrift und dem Kreuz. FOTO: SOMMER/DPA

TÜBINGEN/BERLIN. Von einer verfahrenen Situation spricht Professor Ernst Seidl, Kunsthistoriker, Hochschullehrer und Museologe, im Hinblick auf das Humboldt-Forum. Neben grundsätzlichen kulturpolitischen Bedenken sieht er das Großprojekt in Berlins Mitte mit architektonischen, urbanistischen und museologischen Problemen behaftet. Es sei ein fatales Zeichen, das Deutschland mit diesem Gebäude und seiner Nutzung als Museum in die Welt sende.

Seidl leitet seit 2008 das Museum der Universität Tübingen (MUT). In seiner Masterarbeit beschäftigte er sich mit Museumskonzepten. Er promovierte über große, vergleichbare politische Kulturbauten (Grands Projets Mitterrands), habilitierte sich über urbanistische Grundformen (städtebauliche Achsen) und publizierte über alle diese Bereiche, auch die Berliner Situation. Dass er in Tübingen seit zwölf Jahren die größte Anzahl universeller wissenschaftlicher Sammlungen an einer deutschen Universität leitet, gibt seiner Stimme zusätzlich Gewicht.

Seidl rekapituliert im Gespräch mit dem GEA die Situation des vor wenigen Tagen virtuell teileröffneten Humboldt-Forums. Nach 1989 habe es mehrfach den Wunsch gegeben, gewisse Bauten aus der deutschen Geschichte wieder herzustellen. Seidl spricht von Nationalromantikern, aber auch reaktionären Kräften, die darauf gedrungen hätten, das Hohenzollernschloss in Berlins Mitte wieder aufzubauen – weil die Achse der Linden dort so schön geendet habe »oder wie auch immer«.

Seidl erhebt hier seinen ersten Einwand. »Kein barocker Fürst würde so einen spitzen Winkel zu seinem Schloss hin bauen«, sagt er. Die Orientierung dieser Straße habe nichts mit dem Schloss zu tun. »Das hat sich lediglich so herausgebildet, weil dort ein Reitpfad verlief und die Hundebrücke über den Kupfergraben ging.« Jeder barocke Fürst, der das geplant hätte, meint Seidl weiter, hätte die Straße im rechten Winkel zur zentralen Fassade seines Schlosses gebaut und sie dann in einiger Entfernung eine Biegung in Richtung Charlottenburg machen lassen.

Das aber ist nicht Seidls Hauptkritikpunkt. Nachdem in den 1990er-Jahren mit der Nachbildung der Schlossfassade an einem Gerüst die Debatte um einen Wiederaufbau des Schlosses in Gang gesetzt worden sei, hätten die politisch Verantwortlichen diesem »eigenartigen Reflex« nachgegeben.

Ein Grund dafür, den im Weg stehenden Palast der Republik, ein unliebsames Relikt der DDR, abzutragen, habe sich dann auch gefunden: Asbest. »Interessant war aber, wie dieser Palast der Republik in der Phase des Rückbaus genutzt wurde: als Ort für das Experimentelle – das, was Berlin nach 1989 ausgemacht hat.« In der Halbruine, dem transitorischen Ort Kultur zu schaffen, ungewöhnliche Ereignisse stattfinden zu lassen, das habe Berlin von anderen Städten wie etwa München unterschieden. Doch habe man wieder vor die Geschichte des 20. Jahrhunderts zurück gewollt.

Beispiel Elbphilharmonie

Um ein Humboldt-Forum zu etablieren, hätte es nicht des Zurücks zur Architektur des Hohenzollernschlosses bedurft, findet Seidl. Vom Büro Schultes Frank, den Erbauern des Bandes des Bundes nebst Kanzleramt, habe es einen Entwurf gegeben, der mit einem Hof, dreiseitig umbaut, quasi den Lustgarten auf der anderen Seite gespiegelt habe und der Platz für ein Denkmal für die deutsche Einheit beziehungsweise die europäische Einigung gelassen habe. »Da hätte man sogar den Platz der Republik integrieren, ihn aufgreifen, darauf anspielen können. Aber das wollte man nicht. Man wollte quasi ins 19. Jahrhundert zurück, am besten nach 1871«, sagt Seidl kopfschüttelnd.

Er bemängelt, dass nicht gewagt worden sei, ein »neues, zukunftsorientiertes Wahrzeichen zu errichten«. Dass so etwas gelingen kann, habe man bei der Hamburger Elbphilharmonie gesehen. Gerade in Berlin mit all seinen Brüchen und einer überaus lebendigen, experimentellen Kultur habe man sich für den Bau von »Kulissen, von Pappmaschee im Zentrum der Stadt, im Zentrum der Republik« entschieden, kritisiert Seidl die bauliche Gestaltung des Humboldt-Forums. »Das ist eine Katastrophe, wie sich Deutschland hier präsentiert.« Der Museumsexperte sagt das auch mit Blick auf die wiedererrichtete Kuppel mit dem daraufgesetzten Kreuz und der Inschrift: »… daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind«. Das klinge auch deshalb wie Hohn, weil im Gebäudeinneren »(Raub-)Gut aus der Kolonialzeit vor 1919« gezeigt werden soll.

Verkopfte Themen

Um »das Ding noch retten«, müsste nach Seidls Ansicht ein »zeitgenössisches künstlerisches Zeugnis implantiert werden, auf das Dach, weithin sichtbar, das den Bruch zeigt«. Im Innern wünscht sich der Kunsthistoriker eine klarere Linie. »Warum entwickelt man nicht ein Konzept und sagt, wir holen die Kunst und Kultur aller Länder und aller Epochen auf die Museumsinsel?« Dem jetzt vorgesehenen Nutzungsmix kann Seidl nicht viel abgewinnen. Neben dem Ethnologischen Museum Berlin und dem Museum für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen soll das Gebäude auch die Berlin-Ausstellung des Stadtmuseums und das Humboldt-Labor der Humboldt-Universität beheimaten. Auch sollen diverse Veranstaltungen sowie Sonder- und Wechselausstellungen abgehalten werden.

»Schon in der Humboldt-Box, die dort jahrelang stand, hat man versucht, mit thematisch übergeordneten Fragestellungen in Ausstellungen diese heterogene Struktur etwas zu zeigen – und es hat nie geklappt«, sagt Seidl. Solche übergeordneten Themen, die komplett verkopft seien, seien einem breiten Publikum nicht zu vermitteln.

Muss überdies eine klare Linie her für den Umgang mit (Raub-)Gütern aus der Kolonialzeit ? Ja, findet Seidl, der aber auch zu bedenken gibt, dass das Thema "extrem komplex" ist. Das stelle man auch an der Universität Tübingen fest. "Zum einen hat man Bestände, die unglaublich schlecht dokumentiert sind. Von denen man annehmen muss, dass sie einen Unrechtskontext haben, oder deren Provenienz man nicht kennt. Das bedeute, dass man in einzelne Objekte, einzelne kleine Konvolute erhebliche Forschungsarbeit investieren muss. "Dafür fehlen oft die Mittel."

Wichtig sei aber auch die grundsätzliche Bereitschaft, wenn man etwas herausfindet, zu sagen: Wir haben so viele Schätze, so viele Objekte, so viele Sammlungen, wir geben etwas her. Auf dieser offenen, kommunikativen Basis könne man dann mit den Verantwortlichen in den Ursprungsländern verhandeln und gegebenenfalls erreichen, dass einzelne Stücke als Dauerleihgaben in den Museen verbleiben.

Tübinger Praxis

Im Humboldt-Forum sollen ab dem kommenden Jahr einige der sogenannten Benin-Bronzen prominent ausgestellt werden. Sie sind von unbestrittenem künstlerischen Wert und zugleich Zeugnisse eines der brutalsten Raubzüge der europäischen Kolonialgeschichte. Nigeria fordert die Rückgabe der Skulpturen.

Nicht immer, so weiß Seidl, finden sich in den Herkunftsländern die richtigen Ansprechpartner. In Tübingen etwa habe es eine Anfrage aus Namibia wegen hier im Bestand befindlicher Herero-Skelette gegeben. In Kooperation mit dem Auswärtigen Amt sei die Sache ein Jahr lang untersucht worden. Dabei habe sich gezeigt, dass es sich nicht um Herero-Skelette, sondern um Skelette Verstorbener anderer Volksgruppen handelt. Das Interesse aus Namibia sei daraufhin erloschen.

In einem Fall, der die Nachfahren der neuseeländischen Ureinwohner betrifft, kam es anders: Die Universität Tübingen besitzt ein Schnitzwerk, Poupou genannt, das im 18. Jahrhundert vom britischen Seefahrer James Cook nach Europa gebracht wurde. Die Maori-Nachfahren haben nach Seidls Worten auf eine Rückgabe des Paneels mit der Darstellung ihrer Ahnen verzichtet. Was damals verschenkt worden sei, könne man heute nicht zurückfordern, hätten sie argumentiert.

Dennoch ging das Poupou 2019 als Leihgabe auf Reisen und wurde in einer Sonderausstellung im Tairawhiti Museum im neuseeländischen Gisborne zur Erinnerung an den ersten Kontakt zwischen Maori und Europäern gezeigt. (GEA)