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Aktuell Theater

Das große Spiel der Unvollendeten

REUTLINGEN. Die Tür des Theaters steht weit offen; der Lärm der Straße dringt herein. Als der Direktor die Tür schließlich schließt, ist es zu spät: Personen, die keiner eingeladen hat, stürmen auf die Bühne, fordern von ihm eine Geschichte, eine Inszenierung ein. »Sechs Personen suchen einen Autor« gehört zu den berühmtesten Theaterstücken des 20. Jahrhunderts - der reale Autor dieses Stückes, Luigi Pirandello (1867-1936), revolutionierte lange vor Artaud und Beckett das Theater, hob die Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne auf, entfesselte Skandale und erhielt den Literaturnobelpreis.

Aufstand gegen die Norm

Was 1921, bei seiner Uraufführung, anders war als alles, was bis dahin auf dem Theater zu sehen gewesen war, ist am Sonntagabend im franz.K noch einmal anders: Das Teatro La Ribalta aus Bozen, Südtirol, spielt Pirandello beim Festival »Kultur vom Rande« und überschreitet eine weitere Schwelle. Auch Menschen mit Behinderung kommen hier auf die Bühne; die Wirklichkeit wird in noch größerem Maße in die Szene eingebracht, Menschen aus Fleisch und Blut, mit all ihren Eigenheiten, fordern ihr Recht ein. Pirandellos Stück feierte vor fast 100 Jahren den Aufstand gegen eine Norm des Theaters - nun verabschiedet es die Normen der Gesellschaft. In Sinne des Autors ist das unbedingt: Das Leben selbst ist Maskerade, Rollenspiel, aber das Theater kann ihm nicht gerecht werden - die Rollen müssen stets neu geschrieben, definiert werden.Im Stück geht es um sechs Figuren, die von ihrem Autor nicht vollendet wurden. Das Teatro La Ribalta setzt den philosophischen Ansatz Pirandellos auf eindringliche Weise um, löst sich dabei stark von der Vorlage und bleibt ihr doch treu: »Personaggi« heißt das Stück nun verkürzt; es ist eine energiegeladene Performance, Körperaktion. Antonio Viganò hat Regie geführt, Julie Anne Stanzak eine Choreografie von bemerkenswerter Dynamik geschaffen. Acht Schauspieler treten auf - einer von ihnen sitzt im Rollstuhl, bei den anderen bleibt die Frage nach der körperlichen Normabweichung im Dunkel; einer ist der Regisseur, verzweifelt ob dieser Revolution im Palast der Kunst. Auf dieser Bühne sind sie alle gleich. Gesprochen wird zumeist Italienisch, selten in gebrochenem Deutsch; Übertitelung sorgt für Verständlichkeit, zur Linken der Bühne sitzt eine Gebärdendolmetscherin. Beides wird nur selten gebraucht: Es geht um die Körper, den freien und individuellen Ausdruck, es wird getanzt, die Schauspieler rennen, schreien, stellen sich auf zu einem Gruppenbild, das sie von sich aufnehmen, in pantomimischem Spiel.

Energiegeladene Performance

Die Gruppe tritt geschlossen vor und zieht sich dann wieder zurück; eine Schauspielerin, Tänzerin, beherrscht die Szene. Um sie herum die Männer, die zur hypnotisierenden Percussion Kieselsteine auf den Boden werfen. Die Steine springen im gleißenden Licht der tiefgestellten Scheinwerfer, ein beständiger wilder Hagel, in dem die Frau gestikuliert, die Arme ausbreitet, um sich schlingt und hüpft, sich ganz zum Ausdruck bringt, sich behauptet im steinernen Regen: ein Bild, das wild und kraftvoll nachhallt. Über der Bühne, im Dunkeln, die Schrift: »Das Leben besteht aus unzähligen Absurditäten«, steht dort. »Wir selbst sind eine Absurdität. Wir sind echt.« (GEA)