REUTLINGEN. Die meisten Erwachsenen haben das Konzentrationslager nicht überlebt; Kinder, Säuglinge waren dort chancenlos, ihr Tod war in der zynischen Logik der NS-Machthaber kalkuliert. Und doch hat Ingelore Prochnow überlebt, die am 4. April 1944 im KZ Ravensbrück zur Welt kam, wo ihre Mutter inhaftiert war. Über ein Jahr überlebte sie bis zur Befreiung am 2. Mai 1945. In einem Lager, in dem die inhaftierten Frauen systematisch unterernährt und mit Zwangsarbeit aufgerieben wurden. Ein Wunder.
Die Filmemacherin Heike Rode hat mit Prochnow eine Doku über deren Schicksal gedreht. Den rund 45-minütigen Beitrag präsentierte sie am Donnerstagabend im franz.K, auf Einladung auch von DGB und IG Metall, der VVN-Bündnisse Reutlingen und Tübingen-Mössingen sowie dem Reutlinger Bündnis gegen Rechts und dem OTFR Tübingen.
Es ist ein wenig bekanntes Kapitel des NS-Terrors, das der Film beleuchtet. Im KZ Ravensbrück waren nur Frauen gefangen; manche waren schwanger, als sie inhaftiert wurden, Kinder wurden geboren. Prochnows Mutter, damals erst 19, hatte 1943 als Dienstverpflichtete auf einem Bauernhof geholfen und intimen Kontakt zu einem polnischen Zwangsarbeiter gehabt. Das reichte für das KZ.
Dass Ingelore Prochnow überlebte, rechnet sie der Hilfe der Frauen in Block 5 an. »Meine Mütter« nennt sie diese Frauen, die sie nie kennengelernt hat. »Der ganze Block fühlte sich verantwortlich für ein Kind«, hat ihr eine frühere KZ-Insassin erzählt. »Ein Kind verkörperte Hoffnung.«
Es geht in dem Film nicht um die Gräuel, denen Frauen, Mütter, Kinder in Ravensbrück ausgesetzt waren. Es geht um Prochnows Spurensuche nach ihren Wurzeln, an die sie keine Erinnerungen mehr hat, weil sie zu klein war. Nicht einmal ihre leibliche Mutter kennt sie zunächst, weil diese sie 1947 in einem Flüchtlingsheim zurückließ. Das Kind kommt zu einer Pflegefamilie in Lemgo, wo man ihr das Versprechen abringt, nie nach ihrer leiblichen Mutter zu forschen. Sie hält sich daran – bis zum Tod ihrer Pflegeeltern Mitte der 1980er, da ist sie 42. Nun erst geht sie der Sache auf den Grund.
Der Blick in ihre Adoptionsurkunde ist ein Schock. Dass sie in einem KZ geboren wurde, dort ein Jahr lang überlebte, lag jenseits ihrer Vorstellung. Sie macht ihre Mutter in Stuttgart ausfindig, man telefoniert, man vereinbart ein Treffen auf halber Strecke in Essen – Prochnow wohnt inzwischen in Bielefeld. Das Gespräch wird zum Fiasko. Renate Lutz, wie sie nun heißt, redet pausenlos über sich, interessiert sich nicht für ihre Tochter.
Das Schweigen der Behörden
Die Identität ihres polnischen Vaters wiederum geben die Behörden zu Lebzeiten der Mutter nicht preis – Datenschutz, heißt es. Erst 25 Jahre später bekommt Prochnow Klarheit, da ist ihr Vater bereits 15 Jahre tot. Offenbar hat Ingelore einen Halbbruder in Polen, doch der ist reserviert, zweifelt den Sachverhalt an.
Prochnow lässt die Sache ruhen; erst für das Filmprojekt nimmt sie noch einmal eine Spur auf. Mit Rode fährt sie nach Welsleben, wo ihre Mutter auf dem Bauernhof Dienst leistete, wo sie den Zwangsarbeiter kennenlernte, wo beide verhaftet wurden. Die Menschen im Dorf sind freundlich, erinnern will sich niemand.
Heike Rode packt das in ruhige, unaufdringliche Bilder. Immer wieder schweift der Blick über den See beim ehemaligen KZ Ravensbrück, als wäre die Wahrheit dort versunken. Das KZ, längst Gedenkstätte, sei für sie inzwischen wie eine Art Heimat, sagt Prochnow. Sie engagiert sich mit anderen ehemaligen Insassen und Aktivisten im Freundeskreis der Lagergemeinschaft Ravensbrück. Hier hat Heike Rode sie kennengelernt, die der Organisation ebenfalls angehört.
Prochnow hat ihren Frieden mit ihren Wurzeln gemacht. Der Krieg in der Ukraine jedoch spült die Frage nach menschlichem Unrecht wieder hoch. Vorangestellt hat franz.K-Leiter Andreas Roth, der auch moderierte, eine Stellungnahme der Vereinigungen der NS-Konzentrationslager: Der Krieg müsse sofort beendet werden. Und: Man könne den Missbrauch von Worten wie »Entnazifizierung« und »Völkermord« als Vorwand zum Angriff auf die Ukraine nicht akzeptieren. (GEA)