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Christo, der Verzauberer der Welt

Christo, der Künstler, der den Reichstag verhüllte und ganze Inseln einpackte, ist mit 84 Jahren gestorben

Christo vor der Ölfässer-Pyramide »The Mastaba« in London, dem letzten vollendeten Projekt.
Christo vor der Ölfässer-Pyramide »The Mastaba« in London, dem letzten vollendeten Projekt. Foto: dpa
Christo vor der Ölfässer-Pyramide »The Mastaba« in London, dem letzten vollendeten Projekt.
Foto: dpa

NEW YORK. Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es bei Hesse. Christo führte uns die Welt vor Augen, als habe sie gerade neu angefangen. Als habe der Schöpfer sie aus einer verrückten Laune heraus noch einmal neu konzipiert. Nun ist der Künstler, der die Welt verpackte, am Sonntag mit 84 Jahren in seiner Wahlheimat New York gestorben.

Den Triumphbogen in Paris wollte Christo als Nächstes verhüllen. Jahrzehnte hatte er darauf zugearbeitet. Diesen September sollte es so weit sein – doch wegen der Corona-Epidemie hatte er die Realisierung auf 2021 verschoben. Nun will Frankreich die Verhüllung posthum realisieren. Als letztes Geschenk Christos an Paris. Reutlingen ist dabei in gewisser Weise Teil des Projektes. Bei der im Ortsteil Altenburg beheimateten Siebdruck-Firma Graffiti hatte Christo kürzlich eine Grafik vervielfältigen lassen, um Mittel für die Verhüllung zu gewinnen.

2016 umgab Christo Inseln im Iseosee in Italien mit farbigen schwimmenden Stegen und verband sie mit dem Festland. Der Zustrom v
2016 umgab Christo Inseln im Iseosee in Italien mit farbigen schwimmenden Stegen und verband sie mit dem Festland. Der Zustrom von Kunstfans war gewaltig. FOTO: DPA
2016 umgab Christo Inseln im Iseosee in Italien mit farbigen schwimmenden Stegen und verband sie mit dem Festland. Der Zustrom von Kunstfans war gewaltig. FOTO: DPA

Die Arbeit bestand aus einer in Folie gewickelten, mit Packband verschnürten Globusscheibe, die auf eine übermalte Fotografie aufcollagiert wurde. So, als würde der verhüllte Globus auf dem Rücken einer Frau schweben. Graffiti-Geschäftsführer Sebastian Wendel lernte bei der Kooperation die Detailversessenheit des Künstlers kennen. Wochenlang gingen Probemuster und Anmerkungen zwischen Reutlingen und New York hin und her. Der Faltenwurf der Folien-Verhüllung, selbst zufällige Verschmierungen der Originalgrafik, alles sollte in der Siebdruck-Umsetzung erhalten bleiben. Dabei war diese collagierte Globus-Grafik so etwas wie ein Programm von Christos Kunst: Die Welt gewinnt ihre Magie zurück, indem sie sich verbirgt.

Christo,1935 im bulgarischen Gabrowo geboren, fand in den 1960er-Jahren zu diesem Prinzip. Die Idee lag in der Luft. Fluxus-Künstler wie Joseph Beuys oder Yoko Ono begannen, Kunst als Eingriff in die Realität zu begreifen. In den USA zogen die Vertreter der Land-Art in die Einöde und brachten Zeichen in der Wildnis an. Joseph Beuys marschierte mit einem toten Hasen durch eine Ausstellung und erklärte dem toten Tier die Werke. Der Begriff »soziale Plastik« kam auf: die Idee, dass es schon allein Kunst sein kann, in bestimmter Form auf das gesellschaftliche Umfeld einzuwirken.

Simples, wirkungsvolles Prinzip

Christo griff das alles auf und machte gemeinsam mit seiner Frau Jeanne-Claude etwas ganz Eigenes daraus. Sie waren ein unzertrennliches Team, bis Jeanne-Claude 2009 mit 74 Jahren an einer Hirnblutung starb. Beider Prinzip war so simpel wie wirkungsvoll: das Nachdenken über etwas in Gang zu setzen, indem man es dem Blick entzieht. Einen neuen Blick auf die Welt zu erzwingen, indem den gewohnten verweigert.

Eines der ersten Objekte, an dem Christo das durchexerzierte, war ein VW-Käfer. Zu mehr reichten anfangs, in den 1960er-Jahren, seine Mittel nicht. Auch dieses Motiv sollte viele Jahre später als Siebdruck-Auftrag in der Werkstatt von Graffiti in Reutlingen landen. Der Verkauf der Arbeit sollte spätere, weit aufwendigere Projekte finanzieren helfen.

Die Projekte wurden größer. Christo und Jeanne-Claude verhüllten Brunnen, Museen und Denkmäler in Italien, der Schweiz, Deutschland. 1972 schließlich ein ganzes Tal im US-Bundesstaat Colorado. 1985 packten sie den Pont Neuf in Paris ein. 1995 verhüllten sie dann den kompletten Reichstag in Berlin.

Das Monument wirkte mit den Stoffbahnen plötzlich anwesend und abwesend zugleich. Ein Objekt, wie aus einer poetischen Märchenwelt in die Hauptstadt gebeamt. All der historische Ballast, der sonst an diesem Gemäuer klebt, die Wirrungen der Weimarer Republik, die Verbrechen der Nazis, das Pathos der Wiedervereinigung – alles verschwand hinter Tüchern, war nur noch fernes Echo. Was man sah, war Fantasie.

Es hatte einen eigenen Bundestagsbeschluss gebraucht, um das Projekt zu ermöglichen, angebahnt von der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Der oft jahrzehntelange Vorlauf – in diesem Fall seit 1971 – ist bei Christo und Jeanne-Claude Teil des Kunstwerks. Das Ringen mit Behörden. Das Hochschlagen der Wellen zwischen Befürwortern und Gegnern. Zu zeigen, dass es möglich ist, Bürgermeister, Abgeordnete und Parlamente zu scheinbar verrückten Entscheidungen zu bewegen. Entscheidungen jenseits wirtschaftlicher, politischer, kommunaler Interessen. Das macht Christos Projekte als Ganze zur »sozialen Plastik«. Die Verhüllung selbst ist nur das Finale.

Unzertrennliches Gespann: Christo und Jeanne-Claude arbeiteten stets gemeinsam.
Unzertrennliches Gespann: Christo und Jeanne-Claude arbeiteten stets gemeinsam.
Unzertrennliches Gespann: Christo und Jeanne-Claude arbeiteten stets gemeinsam.

Zu diesem Realität-werden-lassen des Unwahrscheinlichen gehört auch, dass Christo und Jeanne-Claude jegliche finanzielle Förderung verweigerten. Keine öffentlichen Zuschüsse, kein Sponsoring – die Kunstwerke finanzierten sich stets aus nichts als der Kunst selbst. Christo fertigte Skizzen und Entwürfe, ließ sie als limitierte Grafik-Serien umsetzen – zum Beispiel von Graffiti in Reutlingen.

So verwandelten farbige Stoffbahnen den New Yorker Central Park 2005 in eine Art buddhistischen Wandelpfad. 2018 wuchs eine »ägyptische« Pyramide aus farbigen Ölfässern aus einem See im Londoner Hyde Park. Auch finanziell schienen diese Fantasiegebilde wie aus dem Nichts zu kommen. Christo, im sozialistischen Bulgarien aufgewachsen und mit einer sehr individuellen Art von Marxismus im Hinterkopf, schien auch mit dieser Art des Wirtschaftens übliche Vorgehensweisen aus den Angeln heben zu wollen. Um die Welt zu verzaubern.

Inseln mit Blütenkranz

Er selbst behauptete stets, seine Verhüllungen hätten keinen Sinn und die Projekte, die er mit einer irrwitzigen Energie verfolgte, seien im Grunde töricht. Auch diese Bedeutungs-Verweigerung zielt, wie die Verhüllung selbst, wieder zurück auf den Betrachter. Wo jede Bedeutung verwehrt wird, muss sich der Betrachter selbst einen Reim machen. Bei Christo und Jeanne-Claude, das war ihre besondere Kunst, ist er gezwungen, sich einen Reim auf die Welt an sich zu machen.

Während das bei anderer Kunst oft ein anstrengender Prozess ist, war es bei Christo fast immer leicht, spielerisch und einfach schön. Wer 2016 barfuß über den tief orangefarbenen Stoff auf den schwimmenden Stegen im Iseosee gewandelt ist, wird diese spielerische Magie gespürt haben. Christo selbst schaukelte darauf wie ein entzücktes Kind. Die Inseln im See hatte Christo durch Kränze aus diesen orangefarbenen Stegen wie Blumen zum Blühen gebracht. Die Erde als Ort reiner Fantasie. Wir müssen ihn nur als solchen sehen lernen. Und ihn am Ende zu einem solchen machen. Das haben Christo und Jeanne-Claude gelehrt. (GEA)