STUTTGART. Zu viel Text. Viel zu viel Text. Der diesjährige Noverre-Abend im Stuttgarter Schauspielhaus begann mit einem sehr jungen Multitalent, das gerade die John-Cranko-Schule absolviert hat: Carlos Strasser komponierte auch die Musik, spielte Klavier und rezitierte einen eigenen Text, neben dem der Tanz fast unterging, weil er die Worte pantomimisch verdoppelte.
Acht Choreografen stellten ihre Werke vor: fünf aus Stuttgart und drei Gäste, sieben Männer und eine Frau, kein einziger von ihnen ein Debütant, denn ausprobiert haben sie das Finden von Schritten alle schon einmal. Der »Junge Choreografen«-Abend des Stuttgarter Balletts, wo so viele große Meister einst begonnen haben, war in diesem Jahr sehr abwechslungsreich und zeigte, wenn man einen Aspekt besonders herausheben will, vor allem die Qualität der hauseigenen Ballettschule, von wo die meisten der beeindruckenden jungen Tänzer stammten.
Der junge Italiener Emanuele Babici verfügt über ein riesiges, virtuoses Vokabular - wie schade, dass er nicht ein wenig abstrakter arbeitet und stattdessen beim Geschichtenerzählen in den Untiefen einer vergangenen Ästhetik versinkt. Noan Alves wollte offensichtlich mal was mit Schleim machen und setzte seine tapferen Tänzer in eine glibberige Masse. Mit einfacher Symbolik, aber tiefer Empathie erzählte Adrian Oldenburger von der Angst einer jungen Frau, die von einem gütigen Engel in den Himmel gebracht wird. Martino Semenzatos »10 Minutes of Silence« bewahrt tatsächlich bis fast zum Schluss die Stille. Das geheimnisvolle, vieldeutige Stück sieht aus wie ein Experiment an zwei lehmigen Golems oder der Versuch, Yin und Yang zu trennen. Vor allem lebt es von der puren Bewegung.
Im Netz
Der Noverre-Abend ist noch bis Sonntag, 2. Juni, auf der Webseite des Stuttgarter Balletts als Video on Demand abrufbar: www.stuttgarter-ballett.de. (GEA)
Als Gast vom Ballett am Rhein setzte die Kanadierin Neshama Nashman ganz staunenswert die gleichzeitige Fremdheit und Anziehungskraft einer Zufallsbegegnung um, mit großer Intensität und einem einfallsreichen Spektrum von Zögern und Locken, Selbstaufgabe, Drohung, Angst und Hingabe. Vladyslav Detiuchenko gehört zum neuen United Ukrainian Ballet aus geflüchteten Tänzern. In seinem raffinierten, atmosphärischen Duo »Stand By Me« wurde eine junge Frau vom Geist ihres toten Mannes besucht, dank der bedrohlichen Musik von Yurii Shepeta mutierte das fast zum Horror-Ballett. Tröstlich und todtraurig zeigt das Duo, wie bloße Erinnerung zur tatsächlichen Berührung wird.
Edvin Revazov ist einer der Starsolisten in John Neumeiers Kompanie und hat mit dem Hamburger Kammerballett ebenfalls eine kleine Kompanie aus ukrainischen Exilanten gegründet. Sein »Unbound« zum Trauermarsch aus Beethovens »Eroica« blieb trotz aller Eleganz ein wenig zurückhaltend, konnte sich nicht zwischen minimalistischem Formbewusstsein und den Andeutungen eines Beziehungskonfliktes entscheiden. Manchmal wäre ein wenig Pathos doch nicht so schlecht … (GEA)