REUTLINGEN. Wie viel Fröhlichkeit doch in diesen Liedern steckt! »Die ganze Welt ist himmelblau«, tönt es durch die Reutlinger Stadthalle. Oder auch etwas galliger und frivoler: »Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?«. Musik, die in den 1930er-Jahren Berlin und Wien verzückte. Lieder und Chansons, deren Texte mit pointiertem Wortwitz amüsieren und die einer Ära der Film- und Unterhaltungsmusik entstammen, die die Wiener Sängerin Ethel Merhaut in der Rückschau als »süß und bitter« bezeichnet. Ihr 2021 erschienenes Album trägt diesen Namen.
Süß, so erläutert sie am Donnerstagabend in der Stadthalle beim ersten Kaleidoskop-Konzert der Württembergischen Philharmonie in dieser Spielzeit, weil in dieser Zeit die Kunst florierte. Bitter, weil dieser Cocktail in einer Zeit der Armut, Inflation und des Erstarkens von Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus (»wie heute«) kredenzt wurde.
Deportiert und ermordet
Vor ein paar Jahren noch, sagt Ethel Merhaut, habe sie nicht die Notwendigkeit gesehen, in ihren Konzerten immer auch mitzuerzählen, was mit Textdichtern wie Fritz Löhner-Beda (»Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren«, »Dein ist mein ganzes Herz«, »In der Bar zum Krokodil«) geschah - er wurde von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet. Vor dem Hintergrund heutiger Entwicklungen erscheint es ihr aber wichtig, die fatalen Konsequenzen eines um sich greifenden Antisemitismus anzusprechen.
Das Besondere an dem Abend ist, dass das Programm »Süß & bitter« erstmals in sinfonischen Arrangements erklingt, die Rezsö Ott erstellt hat. Mit der Württembergischen Philharmonie und Gastdirigent Jakob Brenner als Partnern. Und mit Ethel Merhauts Band, bestehend aus Belush Korenyi (Klavier), Ilse Riedler (Saxofon und Klarinette), Clemens Gigacher (Kontrabass) und Andi Senn (Schlagzeug). »Es ist ein großer Traum, der heute wahr wird«, sagt Ethel Merhaut im Konzert und dankt allen Beteiligten. Sie flaniert an diesem Abend - erst im hochgeschlossenen roten Glitzerkleid, dann im schulterfreien Kleid, das Schwarz mit einem Goldton verbindet - überzeugend zwischen Chanson, Jazz und Swing, Operette, jiddischem Lied und Wienerlied.
Seelenvolle Lieder
Wobei die seelenvollen jiddischen Lieder (»Glik«, »Abi gezunt«, »Tif vi di Nakht«, »Du bist dos likht fun mayne oyg'n«) ganz besonders berühren. »Glik« beispielsweise ist Gänsehaut pur. Versonnen, innig, melancholisch kommt es daher, zunächst nur begleitet vom Klavier, dann von den Streichern mit einem sanften Glimmen versehen, mit Harfensaum, Saxofon-Träumerei, betörendem Kontrabass-Pizzicato und sachtem Schlagzeug-Streicheln mit dem Besen.
Das Orchester darf in »Jonny, brauchst du Money?« von Paul Abraham auch mal rein instrumental genüsslich und farbenfroh große Leichtigkeit verbreiten. Ansonsten ist es an der Seite dieser wunderbaren Sängerin, die jedem Lied einen eigenen Charakter gibt. Mal feinfühlig und verträumt, mal aufgekratzt, mal als satirisches Kabinettstückchen. Herrlich ist beispielsweise der als Zugabe von ihr so schillernd wiedergegebene Titel »Die Kleptomanin« von Friedrich Hollaender.
Bewunderung für Marlene Dietrich
Ethel Merhaut drückt ihre Bewunderung für Marlene Dietrich aus, auch weil sie den Lockungen aus Berlin widerstand und sich klar gegen Nazi-Deutschland positionierte. Sie singt dann ein Lied, das man heute mit Marlene Dietrich verbindet, obwohl es 1932 die Schauspielerin Anna Sten war, die es im Filmdrama »Stürme der Leidenschaft« erstmals interpretierte: »Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre«, von Friedrich Hollaender auf einen Text von Robert Liebmann im Walzertakt komponiert.
Toll ist der Swing, den die Württembergische Philharmonie unter der Leitung von Jakob Brenner in schillernden Farben auffächert. Das gelungene Wechselspiel mit der Sängerin. Und ihrer Band, die immer wieder in den Stücken solistisch aufdreht. In »Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben?« hört man joviale Wortmeldungen aus dem Blech. In anderen Stücken ist es die Sensibilität, die die Musiker an den Tag legen, die beeindruckt.
Traum vom Glück
Werner Richard Heymanns »Irgendwo auf der Welt« (Text: Robert Gilbert) erklingt ruhevoll und intim. Das Orchester bleibt zunächst im Hintergrund. In der Reprise aber baut sich in ihm etwas vom Glück, von dem hier geträumt wird, auf und klingt, als der Gesang schon zu Ende ist, als Utopie in den Schlusstakten nach.
Alle Beteiligten wurden für diesen stimmungsvoll-stimmigen Abend mit erquicklichen Darbietungen gefeiert. (GEA)