HAYINGEN-WIMSEN . Was sich in sechs Jahrzehnten alles ansammeln kann: Von Country bis Reggae haben die Rolling Stones alles abgeliefert, was dem Zeitgeist entsprach. Das »Oeuvre«, wenn man es so nennen mag, durchdrangen die Berliner Vollzeitmusiker von Butterfly On A Wheel jetzt schon zum zweiten Mal in Wimsen auf überraschende Weise. Leise, fast bedächtig, wagen sie sich an Stücke, die schon lange nicht mehr auf der Setliste der großen Vorbilder stehen bei ihrem Auftritt am Samstagabend in der historischen Mühle.
Abgesehen von »Under My Thumb«, das wegen angeblich frauenfeindlicher Textpassagen in der Kritik steht und eine Dame im Publikum bewog, aus Protest den Saal zu verlassen, kamen Titel zum Vorschein, die auch eingefleischte Stones-Anhänger seit Jahren nicht mehr gehört haben. Oder wer kann sich vorstellen, dass die echten Stones bei Live-Auftritten »Emotional Rescue« aus dem Jahr 1980 als Zugabenummer präsentieren? Dafür blieb das unvermeidliche »(I Can't Get No) Satisfaction« in der Schublade.
Sympathischer Anti-Mick mit Hornbrille
Den Hang zur B-Seiten-Ware perfektionieren Butterfly On A Wheel aufs Überraschendste. Didi Schrade, Programmmacher der Wimsener Mühle und selbst jahrzehntelang Stones-Cover-Bandleader, findet die verfremdeten Titel »atemberaubend schön«. Der Opener »Dandelion« (B-Seite von »We Love You« aus 1967) lässt erkennen, wann die Reise begann: in einer vernebelten Hippie-Ära, als Brian Jones noch das Mellotron spielte.
Der Zeitsprung in die 90er-Jahre gelingt Hans Rohe mit »Mixed Emotion« und rückt ihn ins Licht: ein sympathischer Anti-Mick ohne Allüren, mit Fransenfrisur und Hornbrille, bewegungslos auf einem Stuhl sitzend, dafür wechselweise gekonnt die Rollen von Keith Richards, Ron Wood und Mick Jagger übernehmend. Der optische Kontrast könnte größer nicht sein.
Meisterwerke der Rockmusik
»Sweet Virginia« fokussiert jene Platte, die als die beste gilt: »Exile On Mainstreet« von 1972, von der Musikkritik damals gnadenlos verrissen, in Wirklichkeit eines der großen Meisterwerke der Rockmusik. Karl Neukauf als Moderator kann erzählen, auf welch chaotische Weise das Werk in Südfrankreich entstanden ist. Nebenbei gibt er den Stücken mit seinem tiefen Bass eine neue Richtung und dem Hang zum Boogie-Woogie des sechsten Stones Ian Stewart am Keyboard ein schönes Andenken.
Der Lauf durch die Dekaden ist abwechslungsreich, doch naturgemäß spielt sich vieles in der großen Schaffenszeit ab. In »Back Street Girl« (1967) brilliert Ilka Posin auf dem Cajón, doch alles können die vier Berliner auch nicht leisten: Wer wollte in diesem Stück Brian Jones am Vibrafon, Jack Nitzsche am Cembalo und Nick de Caro am Akkordeon ersetzen? »You Gotta Move« wiederum, ein afro-amerikanischer Gospelsong, erinnert an die vibrierenden Live-Konzerte der 70er-Jahre und würde in dieser intensiven Fassung auch Mick Taylor gefallen, dessen Slideguitar wiederum Karl Neukauf übernimmt.
»Angry« ist nicht auf der Setliste
»Time Waits for No One« von »It's Only Rock 'n' Roll«, »Coming Down Again« von »Goats Head Soup«, »Dead Flowers« von »Sticky Fingers« - die Berliner haben sich tief in die Materie eingearbeitet und bringen neuen Glanz in die verstaubten Titel. Der Höhepunkt ist »Melody« von »Black and Blue«, fast schon ein Jazz-Song inmitten von Funk-, Reggae und Blues-Einflüssen. Neukauf überrascht als Stimmenimitator von Mick Jagger und spielt gleichzeitig das bar-lastige Piano eines Billy Preston - ein gekonnter Spagat.
Nur eines spielen sie nicht: »Angry« von 2023, die neue Single der Rolling Stones, die vergangene Woche vorgestellt wurde und das neue Studio-Album ankündigt, das am 20. Oktober erscheint - das erste seit 18 Jahren mit eigenen Titeln. Butterfly On A Wheel lassen die Stücke erst ein paar Jahrzehnte reifen, bevor sie sich an eine Neuinterpretation wagen. Schatzsucher überstürzen nichts. (GEA)