GEA: Heute gibt es nur die »Mitte«. Anfang der 60er aber schossen die Jazzclubs wie Pilze aus dem Boden -
Clemens Wittel: Ja, und diese ganzen Clubs waren bei der honorigen Generation nicht beliebt. Zum einen wurde der Jazz damals von vielen als »Negermusik« betrachtet. Zum anderen war mit diesen Clubs auch eine gewisse Aufmüpfigkeit der Jugend verbunden. Man hat dort geschwoft auf Teufel komm raus.
Wo gab es denn damals überall Jazzclubs in Reutlingen?
Wittel: Es gab den WOS-Keller in der alten Wirtschaftsoberschule im Lindach-Areal, wo heute das neue Seniorenheim steht. Dann gab es schon einen Jazzkeller in der Gartenstraße, das Haus in dem wir heute sind, der privat betrieben wurde: Unseren Eingang gab es so noch nicht, man musste durch den normalen Hauseingang rein und es gab nicht mal Toiletten; die Herren machten im Hof in die Büsche. Dann gab es einen Keller in der Ringelbachstraße, und seit 1962 die »Mitte« in der Museumsstraße.
Die Jazzkeller waren ja Teil einer aktiven Jugendbewegung. Dort wurde ja keineswegs nur Musik gemacht -
Wittel: Nein, da gab es Vorträge, Lesungen, Diskussionen. Auch viele Künstler gehörten dazu. Einer der Gründer der »Mitte« war ja der Bildhauer Heinrich Pfingsten. In seinem Atelier hatte er einen Kreis junger Leute versammelt, mit denen er über Gott und die Welt diskutierte. Daraus entstand die »Mitte«.
Sie haben es erwähnt, diese Gründungen sind bei den älteren Herrschaften oft kritisch gesehen worden -
Wittel: Sehr kritisch. Auch bei der Gründung der »Mitte« gab es gleich Beschwerden von Kneipiers, die ihre Geschäfte bedroht sahen. Mit der Eintragung als Verein 1963 war das vom Tisch. Aber auch im Gemeinderat war der Club umstritten wegen der Furcht vor Ruhestörungen.
Oberbürgermeister Oskar Kalbfell soll ja sogar persönlich gekommen sein, um nach dem Rechten zu sehen.
Wittel: Ja, er ist in den WOS-Keller abgestiegen, um sich ein Bild zu verschaffen, wie es dort zugeht. Natürlich ist damals furchtbar geraucht worden dort unten und furchtbar viel getrunken.
»Damals ist dort furchtbar geraucht worden und fruchtbar viel getrunken«Auch die »Mitte« bekam später Bürgermeisterbesuch -
Wittel: Als die »Mitte« 1973 in die Gartenstraße umzog, war OB Manfred Oechsle bei der Eröffnung dabei. Es gibt einen Film über den Umbau und die Einweihung, darauf ist zu sehen, wie er zur Türe reinkommt. Er war aber nicht zur Kontrolle da, sondern als Ehrengast.
Die frühen 1960er waren ja nochmal eine richtige Blütezeit des Jazz. Was für Musiker gastierten denn in den 60ern und 70ern so in der »Mitte«?
Wittel: Es gab zwei ganz gegensätzliche Strömungen: Einerseits war es die Zeit des Dixieland-Revivals. Damals sind Leute wie Chris Barber oder die Dutch Swing College Band groß geworden. Zum andern gab es aber auch progressiv orientierte »Mitte«-Mitarbeiter, die eher auf Free Jazz standen. Das Programm wechselte daher zwischen Oldtime- und modernem Jazz. Viele, die damals in der »Mitte« spielten, haben später richtig Karriere gemacht: Gunter Hampel, Wolfgang Dauner, Albert Mangelsdorff -
Es gab also damals richtige Free-Jazz-Sessions in der »Mitte«?
Wittel: Ja, besonders beliebt waren aber Happenings. Da ist nicht nur ein Klavier zertrümmert worden. Meistens waren die Klaviere ohnehin schlecht, und wenn wieder eines am Ende war, hat man es in einem Happening zerdeppert. Wir probten damals mit unserer Band in der Zelle, beim Bahnhof über einem Samengeschäft. Eines Tages, als wir zum Üben kamen, war unser Flügel nicht mehr da. Irgendwann rückte man damit raus, er sei einem Happening zum Opfer gefallen und bei diesem zertrümmert und aus dem Fenster gekippt worden. Erst vor wenigen Jahren gestand mir ein alteingesessener honoriger Gemeinderat, dass er damals auch dabei war -
In den 60ern kam ja dann die Beatmusik auf, und der Jazz wurde in die Nische abgedrängt -
Wittel: Das war in der Tat ein Problem, die Jazzkonzerte waren nicht mehr gut besucht. Der Club hat versucht, sich über Wasser zu halten, indem er sonntags um 15 Uhr Beat-Nachmittage anbot. Diese Konzerte waren total ausverkauft. Ende der 70er-Jahre lief es wieder richtig gut, weil eine große Dixieland-Welle kam. Selbst Dixie-Bands aus Australien waren da, wie die Red Onions.
Nur hielt das Revival nicht an.
Wittel: Anfang der 80er-Jahre brach es ab. Das brachte enorme Probleme, denn einerseits hatten die Konzerte kaum noch Besucher; andererseits hatte man lange im Voraus Verträge gemacht. Das führte dazu, dass sich 70 000 Mark an Schulden türmten, als ich 1984 die Programmgestaltung übernahm.
Der Jazzclub stand vor dem Aus -
Wittel: Ja, ich habe mich dann bemüht, ein sehr breites Programm anzubieten. Wir hatten traditionellen und modernen Jazz, Blues oder Tango. Damit gelang es, ein breiteres Publikum zu gewinnen. Gleichzeitig hat die Stadt die Pacht für die Räume übernommen. Heute ist der Club finanziell nicht auf Rosen gebettet, aber wir haben keine Schulden mehr.
Was waren denn die musikalischen Highlights seit den 80ern?
Wittel: Ein absolutes Highlight war der Auftritt von Ray Brown mit Herb Ellis und Monty Alexander. Dann Lee Konitz oder die Chris Barber Band. Auch Leute wie Dauner oder Mangelsdorff kamen wieder. Zum Auftritt von Brown/Ellis/Alexander kamen allerdings nur 70 Leute. Dabei waren das Weltstars!
Heute ist es ein Vorteil, dass man im franz.K die Möglichkeit hat, auch mal in einen größeren Saal zu gehen.
Wittel: Nicht zuletzt deswegen haben wir das franz.K von Anfang an unterstützt. Wir haben ja früher auch schon Konzerte auswärts gemacht, etwa im Spitalhof oder in Firmengebäuden. Aber es war sehr aufwendig, die Infrastruktur dorthin zu bringen. Das franz.K ist hingegen voll ausgerüstet.
»Ein Vorsitzender hat sich als Maulwurf des Verfas- sungsschutzes entpuppt«Was gab es denn sonst noch für einschneidende Geschehnisse?
Wittel: Der Club war zuweilen auch von innen gefährdet. In den 70ern wurde einmal ein Vorsitzender gewählt, der sich ein halbes Jahr später als Maulwurf des Verfassungsschutzes entpuppte. Der war dann von heute auf morgen verschwunden. Ende der 80er-/Anfang der 90er-Jahre hatten wir gleich zwei Mal mit Vorsitzenden zu tun, die den Club mit finanziell riskanten Vorhaben zu ruinieren drohten. In beiden Fällen konnte ich erreichen, dass die Vorhaben gestoppt und die Vorsitzenden abgewählt wurden.
Wie sind die Perspektiven des Clubs?
Wittel: Bei den Musikern gibt es durchaus Nachwuchs. Die lernen das heute nicht mehr autodidaktisch, sondern studieren und kommen als perfekt ausgebildete Musiker auf den Markt. Davon gibt es heute enorm viele! Bei den Zuhörern sieht es nicht ganz so gut aus. Das Publikum des traditionellen Jazz ist mit gealtert; und im modernen Jazz sind leider nicht in dem Maße neue Hörer nachgewachsen wie junge Musiker. Was neue Mitarbeiter im Jazzclub angeht, so sieht es düster aus. Viele junge Leute wollen sich heutzutage nicht mehr auf ein Engagement festlegen. Aber so ein Jazzclub erfordert nun mal die beständige Arbeit. Von daher haben wir bei den Mitarbeitern einen hohen Altersschnitt. Wir hätten die jungen Leute gern, aber bisher finden wir sie kaum. (GEA)