Logo
Aktuell Theater

Allein in einer fremden Welt

Flüchtlingsdrama »Fly Ganymed« in Stuttgart

Adeline Johanna Rüss (Bub) und Anniek Vetter (Mädchen) in einer Szene aus »Fly Ganymed«. FOTO: BJÖRN KLEIN/STAATSTHEATER
Adeline Johanna Rüss (Bub) und Anniek Vetter (Mädchen) in einer Szene aus »Fly Ganymed«. Foto: BJÖRN KLEIN/STAATSTHEATER
Adeline Johanna Rüss (Bub) und Anniek Vetter (Mädchen) in einer Szene aus »Fly Ganymed«.
Foto: BJÖRN KLEIN/STAATSTHEATER

STUTTGART. Bis »Pushback« zum Unwort des Jahres wurde, hatten wir sie über der Pandemie schon fast vergessen, die Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebieten, die im sicheren Europa Zuflucht suchen. Hier ist es ein neunjähriger Junge, den seine Familie, versteckt in riesigen Stahlrohren auf einem Lkw, nach Deutschland schickt, weil sein Dorf in Schutt und Asche liegt. Einen Namen hat er nicht, »Mimit« steht in seinem gefälschten Pass, aus Afghanistan stammt er wohl und will eigentlich gar nicht weg von seiner Ziege und aus seinen Bergen.

In Zusammenarbeit mit dem Studiengang Figurentheater an der Stuttgarter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst zeigt das Staatsschauspiel das rührende, wenngleich ein wenig zu gesprächige Stück »Fly Ganymed« des österreichischen Autors Paul Hochgatterer. Uraufgeführt wurde es 2012 in Wien, der damalige Puppenspieler Nikolaus Habjan wird inzwischen an den großen Bühnen herumgereicht und führt nun im Stuttgarter Kammertheater selbst Regie.

»Klappmaulpuppen« heißen seine ab der Hüfte lebensgroßen Kreationen für die Kinderfiguren – und es ist faszinierend, wie wir als Zuschauer unsere Emotion auf das unebene Gesicht dieses Neunjährigen projizieren. Fröhlich wirkt er, scheint zu lachen, dann sieht man die Angst in seinen Augen blitzen, alles im selben, auf geheimnisvolle Weise ausdrucksvollen Puppengesicht.

Atmosphärische Musik

Das Stück – wieder zu sehen von 18. bis 22. Januar und von 14. bis 22. Februar – springt in der Zeit hin und her, so setzt sich allmählich die Geschichte des Jungen zusammen. Immer wieder gibt es Rückblenden zum Großvater, der dem Bub die Bilder seines Dorfes mitgeben möchte – Darsteller Elmar Roloff steht zwar als zermürbter Mann neben dem Kleinen, seine Stimme aber erklingt wie eine ferne Erinnerung über Lautsprecher. Natürlich vergewaltigt der Schlepper (Gábor Biedermann) das ebenfalls flüchtende ältere Mädchen, natürlich sind die Grenzpolizisten grausam und sogar gewalttätig. Manches wirkt doch arg klischeehaft, ob es nun an der Inszenierung oder am Stücktext des ehemaligen Kinderpsychologen Paul Hochgatterer liegt. Wo man bei einem Neunjährigen, der allein in einer völlig fremden Welt ist, viel mehr Angst und verschrecktes Schweigen erwarten würde, da plappert dieses Kind in einem fort – Puppenspielerin Adeline Johanna Rüss gelingt es kaum, die Furcht des klugen, für sein Alter viel zu tapferen Jungen je durchdringen zu lassen.

Das bedrohlich-suggestive Bühnenbild von Denise Heschl, die atmosphärische Musik von Kyrre Kvam und manch gute Ideen des Regisseurs sorgen dennoch für einen nachdenklichen Abend. Ganymed allerdings, also der schöne Knabe, den Zeus raubte, um ihn zum Mundschenk der Götter zu machen, ist dieser verlorene Bub gewiss nicht. Der Titel hat sich aus einem Vorgängerstück entwickelt, hier geht die Allegorie aber daneben, trotz der schönen Parallelen zum »Bergsohn« aus Friedrich Hölderlins »Ganymed«-Gedicht. Begehrt ist dieses verlorene Kind nicht, und willkommen an den gedeckten europäischen Tischen schon gar nicht. (GEA)