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Aktuell Literatur

Achtsam gegenüber allem Lebendigen

Ein früher Umwelt-Mahner: Vor hundert Jahren starb der Dichter Christian Wagner aus Warmbronn

Christian Wagner auf einer 1915 entstandenen Aufnahme eines unbekannten Fotografen.  FOTO: CHRISTIAN-WAGNER-GESELLSCHAFT
Christian Wagner auf einer 1915 entstandenen Aufnahme eines unbekannten Fotografen. FOTO: CHRISTIAN-WAGNER-GESELLSCHAFT
Christian Wagner auf einer 1915 entstandenen Aufnahme eines unbekannten Fotografen. FOTO: CHRISTIAN-WAGNER-GESELLSCHAFT

Auf einem Wiesenpfad

der voll Blumen steht

Wandrer, stehe! Kennt dein harter Sinn

kein Erbarmen mit den holden Kleinen?

Blicke tiefer in ihr Auge hin

und die ihren blicken in die deinen.

Und ist nicht dein Fuß wie festgebannt,

wenn sich bittend ihre Häupter regen?Wandrer, stehe! Dies ist heilges Land!Wandrer, kehre, geh auf andern Wegen!

Dies Gedicht schrieb Christian Wagner, geboren am 5. August 1835 im Dorf Warmbronn, heute Stadtteil von Leonberg, dort gestorben am 15. Februar 1918, in »Sonntagsgänge I«, 1887. Der Dichter ermahnt den Wanderer, nicht auf die Blumen zu treten. Denn sie sind Mitgeschöpfe mit Köpfen und Augen und anrührendem Wesen. Der Wanderer soll sie schonen, im Blickkontakt mit ihnen soll er ihr Wesen erkennen und respektieren.

Christian Wagners Wiesenpfad-Mahnung hat sich heute zu einem umfassenden Bedrohungs-Bewusstsein erweitert. Auf Riesenkonferenzen wird über Erderwärmung und globale Ökologie-Katastrophen diskutiert. Wagners Wiesenpfad überzieht den Globus. Eine Mahnung zur Ehrfurcht, Achtsamkeit und Umkehr.

Als Kind eines Schreiners und Kleinbauern wächst Wagner in ärmlichen Verhältnissen auf, mit Pflanzen und Tieren vertraut. Neben der Landwirtschaft erwirbt er autodidaktisch vielfältiges Wissen. Die Präparandenanstalt des Esslinger Lehrerseminars muss er nach kurzer Zeit wegen Geldmangel verlassen. Wagner wird Bauer, vor allem aber Dichter. MIt 30 verliert er seine Eltern. Die vier Kinder aus erster Ehe werden nur wenige Monate alt, bei der Geburt des vierten Kindes stirbt seine Frau. Die drei Kinder aus zweiter Ehe erreichen ein höheres Erwachsenenalter, ihre Mutter stirbt 1892. Der Dichter schreibt »Lieder des Leids«.

Die kleine Landwirtschaft kann die Familie nicht ernähren. Wagner muss als Tagelöhner, Holzfäller und beim Eisenbahnbau arbeiten. Nichts aber kann ihn von seiner Berufung als Dichter abbringen: »Ich hatt nicht Wissenschaft, nicht Kunst, / mir wurde beides durch der Götter Gunst, / und Königen und Fürsten steh ich gleich, / doch in der Zukunft schlummert noch mein Reich.«

Mit Wiedergeburtsvorstellungen fühlt sich Wagner eingebunden in die Gemeinschaft alles Lebendigen. Seit den 1880er- Jahren veröffentlicht er autobiografische und literarische Texte. In vielen Gedichten besingt er die Schönheit der Natur, spricht mit Pflanzen und Tieren. Den »Zitronenfalter« fragt er: »Sag, ob du erkannt mich als Bekannten, / Vater, Gatten oder sonst Verwandten.«

Wagner findet Förderer, die ihn auch finanziell unterstützen, so die Deutsche Schillerstiftung in Weimar. Er unternimmt Reisen, besucht Museen, kann sogar nach Italien fahren. Begeisterte Leser besuchen ihn, darunter auch Hermann Hesse.

Christian Wagner ist ein in seiner Zeit bekannter und verehrter Dichter. Nach seinem Tod wird er weniger beachtet. Die 1972 gegründete Christian-Wagner-Gesellschaft will auf Leben und Werk dieses Dichters wieder stärker hinweisen.

Ein sehr eindrucksvolles und bewegendes Gedicht heißt »Ostersamstag« aus »Sonntagsgänge III« von 1890:

Ostersamstag

Wie die Frauen

Zions wohl dereinst beim matten Grauenjenes Trauertags beisammen standen,Worte nicht mehr, nur noch Tränen

fanden;

So noch heute,

stehen als in ferne Zeit verstreutebleiche Zionstöchter, Anemonen,in des Nordens winterlichen Zonen;

Vom Gewimmel

dichter Flocken ist er trüb der Himmel;traurig stehen sie, die Köpfchen hängendund in Gruppen sich zusammen

drängend.

Also einsam,

zehn und zwölfe hier so leidgemeinsam,da und dort verstreut auf grauer Öde,weiße Tüchlein aufgebunden Jede.

Also trauernd,

innerlich vor Frost zusammenschauernd,stehn alljährlich sie als Klagebildnisin des winterlichen Waldes Wildnis.

Das Gedicht überträgt die Situation am Tag nach der Kreuzigung Jesu zeitlich in die Gegenwart geografisch nordwärts, jahreszeitlich in den Winter. Die trauernden Frauen werden in dieser Winterwelt durch früh blühende Buschwindröschen vertreten: bleich, fröstelnd, mit hängenden Köpfen – »leidgemeinsam«. Wie die Frauen am Kreuz »dereinst beim matten Grauen« stehen die Anemonen mit Blütenblätter-Kopftuch »alljährlich als Klagebildnis« »auf grauer Öde«.

Das geschichtlich-religiös Einmalige wird zu einem sich wiederholenden Naturgeschehen. Die mit einem Schlüsselereignis der christlichen Religion verbundene Grundsituation der Trauer und Klage wird im Naturbild der Anemonen veranschaulicht. Die Natur wird um die Dimension des Geistig-Religiösen erweitert. In ruhig fließender Sprache gestaltet der Dichter ein bleibendes Sinnbild von Trauer, Klage, Verlassenheit und Kälte, aber auch der Gemeinschaft im Leid.

Christian Wagners höchst einfühlsame Naturlyrik zielt auf verantwortliches Mitempfinden. Seine Natur und Religion verbindenden Sprachbilder sind bewegende Poesie. (GEA)