TÜBINGEN/REUTLINGEN. Bei all den Kriegen und Krisen der Welt braucht es Orte, wo man sich mal ganz der Fantasie überlassen kann. Und daher, so Festivalleiter Christopher Buchholz, habe man für die Eröffnung der Französischen Filmtage bewusst den Film »La grande magie« von Noémie Lvovsky ausgesucht. Eine Hommage an die Illusion, verkörpert in der Welt fahrender Schauspieler. In diese Welt durfte das Publikum bei der Eröffnung eintauchen, im Kino Museum in Tübingen, aber auch im Reutlinger Kamino, wohin die Eröffnung live übertragen wurde. Mondäne Schauplätze, schrullige Typen. Slapstick und Nostalgie. Musical-Songs und Tanzchoreos. Liebesschmerz und Ehestreit: Hier durfte geweint, gelacht, geschwelgt werden.
Aber vorher musste Geburtstag gefeiert werden: Ihre 40. Ausgabe feiern die Filmtage heuer! Launig blickte Moderatorin Stefanie Schneider zurück. Huldigte den Gründervätern - tatsächlich war erstmal keine Frau dabei, als die Sache stieg. Und zwar in Reutlingen! Ehe man 1984 nach Tübingen umzog. Wo man auf befremdete Filmvorführer traf. »Beste Freunde wurden wir erst, als Volker Lamm da war.« Und das Kino Museum leitete. Schneider: »Er schaut jetzt sicher im Himmel einen hervorragenden Film. Wenn es dort kein Kino gibt, dann wollen wir da gar nicht hin.«
Viele gratulierten zum Jubeljahr. Als erster der französische Botschafter François Delattre. Die deutsch-französische Freundschaft müsse aus der Emotion heraus leben, rief er aus, und sie tue es auch. Deutschland und Frankreich seien doch im Grunde »des amoureux«, verliebt ineinander. Das Festival sei der beste Beweis. Eine Liebe, die Delattre ja gleich unter Beweis stellen könne, wie Carl Bergengruen an, der Chef der Medien- und Film-Gesellschaft Baden-Württemberg MFG, anmerkte. Indem er dafür sorge, dass die französische Seite wieder einsteige beim Verleihförderpreis. Waren die Partner von drüben doch zuletzt abgesprungen, der Preis deshalb geplatzt. »Geben Sie 7.500 Euro, dann geben wir sie auch!«, rief Bergengruen in Richtung Delattre. Schneider: »Das wäre doch mal ein Geburtstagsgeschenk!«
Ein anderes hatte Arne Braun dabei, als Staatssekretär in der Landesregierung für die Filmkunst zuständig. Bei Bundeskulturstaatsministerin Roth setze er sich dafür ein, dass die Filmförderung des Bundes auch die Festivals mit einschließt. Das wichtigste Geschenk hatten aber Carsten Schuffert und Robert Weihing parat. Hatten sie doch die wackelnden Tübinger Kinos aufgefangen, sogar die Blaue Brücke wieder in Betrieb gesetzt. Eine Aufbruchstimmung, die Tübingen gut tut, wie Stefanie Schneider fand. Und die etwas über die bevorstehende Schließung des Arsenals Ende des Jahres hinwegtröstet.
Wie sagte doch OB Boris Palmer in seinem Gruß: Es komme nicht nur aufs Emotionale, sondern auch aufs Finanzielle an. Sorge bereitet ihm die Schließung dreier Goethe-Institute in Frankreich - sollte Frankreich ähnliche Sparpläne aufziehen, wäre womöglich das Deutsch-Französische Institut in Tübingen in Gefahr. Tübingen jedenfalls stehe voll hinter dem Institut, versicherte Palmer.
Christopher Buchholz dankte seinem Team wie auch den Jurys und den Sponsoren. Dankte auch Markus Nievelstein vom Sender Arte, der den Eröffnungsfilm produziert hatte. Und leitete schließlich zu diesem über: »Kriege, Gewalt - die Realität ist schrecklich!« Es müsse auch Räume für die Fantasie geben.
»La grande magie« führt in eine solche Welt der Fantasie. Eine Welt voll nostalgischer Farben und Bilder. Mit Vagabunden-Romantik und Slapstick à la Louis de Funès. In einem mondänen Hotel der 1920er langweilen sich die Damen, ein Hoteldiener hinkt mit Beinprothese, ein geckenhafter Chef keift, ein Ehepaar hat sich nichts mehr zu sagen. Da wirbelt eine Schaustellertruppe herein: Ihr Chef (Sergi López) tritt als Magier vors Publikum, auf fackelbeschienener Wiese. Nicht nur ein Kanarienvogel verschwindet, sondern auch Marta, die weibliche Hälfte des frustrierten Ehepaars. Um nicht wieder aufzutauchen. Im Tumult drückt der Magier dem Gatten ein Holzkästchen in die Hand: Darin sei seine Frau - öffnen dürfe er es nur, wenn er Zweifel an ihrer Treue habe. Fortan sind die Schicksale des Gatten (Denis Podalydès) und der Schausteller verknüpft. Denn nur die Welt der Illusion erlaubt Charles ein Weiterleben.
Aufführungs-Info
Der Eröffnungsfilm »La grande magie« von Noémie Lvovsky wird an diesem Donnerstag, 2. November, noch im Waldhorn in Rottenburg (20.15 Uhr) und im Atelier am Bollwerk in Stuttgart (20 Uhr) gezeigt. (GEA)
https://franzoesische.filmtage-tuebingen.de
Lvovskys Film ist eine Hommage an das alte Kino, in Sepiatöne getaucht, mit scharfkantig gezeichneten Charakteren wie aus der Stummfilmzeit. Der Magier: ein knurriger Lebenskünstler (Sergi López). Seine Frau: eine zupackende Realistin (Noémie Lvovsky). Ihre Tochter: zart-verträumte Elfe (Rebecca Marder). Ehefrau Marta: ausgehungert nach Liebe. Ihr Mann Charles: kontrollwütiger Rationalist (Denis Podalydès). Das Ganze eingeteilt in »Akte« und mit Kameraeinstellungen wie Bühnenpanoramen oder surrealistische Bilder von Magritte. Denn um Bühne und Illusion geht es. Ist nicht die Illusion die eigentliche Wahrheit?
Lvovsky mischt die Nostalgie der Schausteller-Sphäre mit Musical, Pop und Tanz. Und macht die Grenzen der Illusion zum Thema. Wo hört das Spiel auf? Wen liebt man wirklich? Die reale Frau oder die vorgestellte im Kästchen? Sind die windigen Schausteller die wahren Realisten? Im Festival selbst wird sicher noch öfter die Kraft der Fantasie gefeiert. Die Probleme der Gegenwart werden dabei nicht ausgespart. (GEA)




