REUTLINGEN. Eine »Reutlinger Radierwerkstatt-Schule« mit gemeinsamem künstlerischen Ansatz gibt es nicht. Aber einen Zusammenschluss von Individualisten, die sich allesamt für den Tiefdruck begeistern, gemeinsam ausstellen und den künstlerischen Austausch pflegen. Und das seit 30 Jahren. Nun stellt die Reutlinger Radierwerkstatt im Reutlinger Haus der Volkshochschule in der Spendhausstraße aus. Einiges, was man kürzlich schon in der Ausstellung »Druck-Fest« in den Räumen der Produzentengalerie Pupille sehen konnte, ist dabei. Aber auch vieles andere. Die gezeigten Werke sind zwischen 1987 und 2023 entstanden.
Wie durch ein Bullauge wirkt der Blick, der in Helga Bernreuthers »Rungholt/Vineta« auf eine im Meer versunkene, sagenumwobene Stadt fällt. Angedeutet in einiger Pracht, darüber ein Segelboot und eine Möwe, die ihre Kreise zieht. Schorfige Strukturen zeigend und solche, die an ein Blubberbad erinnern, hat sich die Künstlerin auch mit dem Winter auseinandergesetzt. Und in einer Arbeit mit Jonathan Swifts Liliput, wobei schon ein ins Bild ragender Stiefel reicht, um einen Königshof in Erstaunen zu versetzen.
Betörende Farbwirkungen
Christa Rilling lässt in einer »Äpfelchen«-Serie Obst miteinander auf Tuchfühlung gehen. Fast scheint es, als hätten die Früchte Gesichter. Peter Magiera kontrastiert in geheimnisvoll gestalteter Schallplatten-Optik ein »Glücksrad« mit einem »Dunklen Lied«. Alle Strukturen, im letzten Fall dunkel gehalten, gruppieren sich um die Mitte. Sehen wir hier ein alles verschlingendes Schwarzes Loch? Betörende Farbwirkungen gelingen Renate Quast in einer Serie von Radierungen auf Fotografie mit dem Titel »KI=künstliche Intelligenz«. Es ist, als begebe man sich mit ihr auf die Ebene der Pixel, die für sich genommen weder etwas Konstruktives noch etwas Destruktives haben, im Zusammenspiel aber doch in der einen oder anderen Weise wirken.
Gerburg M. Steins zweiteiliger »Tanz der Flächen« (Zuckerreservage / Aquatinta auf Büttenpapier) wirkt in der Tat wie eine Schrittfolge, wie man sie vom Tanz kennt. In einem statischen Spannungsfeld gehaltene Blau- und Schwarz-Flächen erscheinen in einer zweiten Ansicht durch eine große dynamische Kraft verändert, neu aufeinander bezogen. Dazu passend ist Doris Zeiners in hohem Maße abstrahierter »Stabhochsprung«. Wie farbige Flächen und Linien hier in Beziehung gesetzt sind, erinnert an Joan Miró.
Momentaufnahme und Ewigkeitsbild
Gebhard Geiger inszeniert als Sehnsuchtsort, Momentaufnahme und Ewigkeitsbild die »Nordische See - Gotland«. Die »Alblandschaft«, die Susan Weber mit Toner-Transfer und Aquatinta erlebbar macht, hat etwas Magisches. Die Struktur des orange-beigen Himmels gleicht der eines Hundefells. Kathrin Fastnacht lenkt unseren Blick auf Erscheinungen der Natur - Wurzeln beispielsweise -, aber auch sich kreuzende Linien und mosaikhaft einander ergänzende Flächen, die, wie unter dem Brennglas, eher einen Ausschnitt als ein großes Ganzes zeigen.
Günter Wielands »Schwarz-Zeichen« scheinen ein dunkles Kapitel deutscher Vergangenheit zu evozieren. Die martialische Art, wie hier geometrische Formen in Schwarz auftreten, hat etwas Entlarvendes. Peter Kroll reflektiert anhand einer Sonnenuhr-Darstellung, ob und wie der Schatten der Sonne gehorcht. Burkhard Pyroth tut Ähnliches unter dem Titel »Rost und Licht«. Elke Pikkemaat zeigt in Weichgrundätzung auf Basis eines Fotos in dezidiert grafischem Stil einen Frauenakt. Hans Hausseckers »Dorf auf Kreta« fokussiert auf Architektur. Bewohnt scheint die Siedlung in seiner Momentaufnahme lediglich von den Schatten, die die Häuser werfen.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »30 Jahre Reutlinger Radierwerkstatt« ist bis zum 22. Dezember im Haus der Volkshochschule Reutlingen, Spendhausstraße 6, zu sehen. Geöffnet ist Montag bis Freitag von 8 bis 21 Uhr, Samstag von 8 bis 13 Uhr. (GEA)
Karin Meiers Radierung »Mondnacht 1« ist vielleicht die schönste bildliche Interpretation des Eichendorff-Gedichts, die man sich vorstellen kann. Xenia Muscat lenkt unseren Blick unter das karge Blätterdach und den charaktervollen Stamm eines Baumes. Eine Arbeit aus dem Jahr 1993 von Doris Knapp spielt mit Gegenständlichkeit und dem Schemenhaften. Marlene Neumann hat einen Globus mit Fetzen von Radierungen beklebt und fragt uns im Titel ihrer Collage: »Wo geht die Reise hin?« 2022 gestellt, scheint die Antwort auf diese Frage, bezogen auf die Weltlage, heute kein bisschen leichter zu fallen. (GEA)