TÜBINGEN. Die geplante Niederlassung des umstrittenen Online-Händlers Amazon in der Friedrich-Miescher-Straße ist seit Monaten in der Uni-Stadt ein Politikum. Die Position des Gemeinderats ist eindeutig: Zuletzt hat das Gremium im Dezember 2018 mehrheitlich wie bei der Vorberatung im Planungsausschuss empfohlen, die Grundstücks-Option für den Internetgiganten bis zum 31. Oktober 2019 zu verlängert.
Ein interfraktioneller Antrag von AL/Grüne, CDU, SPD, Tübinger Liste und FDP formulierte damals den Anspruch, dass bis dahin ein ethisches Leitbild entwickelt sein sollte für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz, auf dass sich auch Amazon verpflichten müsste. »Sonst würde ich meiner Fraktion empfehlen, bei der endgültigen Grundstücksvergabe dagegenzustimmen«, sagte Grünen-Sprecher Christoph Joachim.
Demo in Tübingen
Die Demo startet am 10. Oktober 2019 um 15 Uhr an der Karlstraße (gegenüber Epplehaus) und geht ab 16:15 Uhr auf dem Marktplatz in eine Kundgebung vor dem Rathaus über. (pr)
Ethik-Standards sollen entwickelt werden
Tübingens OB Boris Palmer hat klar Stellung bezogen. Bei der Künstlichen Intelligenz gehöre Tübingen weltweit zu den zehn wichtigsten Standorten. Amazon, und damit Zukunftsarbeitsplätze, zu verhindern, würde Tübingen zurückwerfen. Baden-Württemberg könnte zum neuen Ruhrgebiet werden, ließ Palmer verbal ein Schreckensszenario entstehen. Es wäre ein fatales Signal, wenn Amazon in Tübingen verhindert werde. Zumal Amazon nicht ante portas sei, sondern schon in der Stadt, wie sich nicht zuletzt bei den Altpapiersammlungen zeigt. »Wir werden durch die Nichtvergabe eines Grundstücks nichts ändern.« Nur den Erfolg des Tübinger Cyber Valleys gefährden. Und damit auch verhindern, dass dringend notwendige ethische Standards entwickelt werden, »damit andere sich an uns orientieren können«. Sonst setze sich das Überwachungsmodell aus China oder das marktgetriebene der USA durch. Das sehen die Demonstranten ganz anders.
»Amazon ist kein guter Nachbar«
Auf der Website des Aktionsbündnisses werden eine ganze Reihe von Gründen aufgelistet, wieso Amazon »kein guter Nachbar« sein könne, »sondern ein Hindernis für unabhängige Forschung, die die Gesellschaft weiterbringt«. An erster Stelle wird der Umgang des US-Konzerns mit seinen Beschäftigten angeführt: »Amazons Strategie ist symptomatisch für die neue Form von komplett entgrenzten Arbeitsverhältnissen, die Plattformen wie Amazon mit sich bringen. Bei «Amazon Mechanical Turk» werden Arbeitsaufträge global ausgeschrieben und zu den prekärsten Bedingungen vergeben. Die Arbeitnehmer*innen sind nicht fest angestellt, ohne soziale Absicherung und in direkte globale Konkurrenz um den niedrigsten Arbeitslohn gezwungen. Dies ist nur einer der Wege, wie Amazon und andere Plattformen Arbeitnehmer*innenrechte gezielt aushebeln. Trotzdem kommt es immer wieder zu Streiks, die das Unternehmen versucht, effektiv auszuhebeln«. Schlecht bestellt sei es auch um den Umgang mit dem Datenschutz.
Künstliche Intelligenz und das »Cyber Valley«
Computer, die dazulernen und selbst Probleme lösen können - damit beschäftigt sich die künstliche Intelligenz. Solche schlauen Rechner werden beispielsweise beim autonomen Fahren gebraucht, wenn intelligente Autos immer neue Situationen kennenlernen und speichern. Auch könnten Roboter dadurch etwa als Haushaltshilfen arbeiten oder - in der ganz winzigen Variante - Krankheiten im menschlichen Körper diagnostizieren und bekämpfen.
Computer können zwar mehr Wissen speichern als das menschliche Gehirn. Doch wenn sie eine Aufgabe lösen sollen, für die sie nicht programmiert sind, stoßen sie an Grenzen.
Das »Cyber Valley« in Baden-Württemberg beschäftigt sich im Raum Stuttgart-Tübingen mit diesen Themen. Es handelt sich dabei um einen Forschungsverbund, der unter anderem vom Land Baden-Württemberg gefördert wird. An der Finanzierung beteiligen sich auch Partner aus der Wirtschaft, darunter Amazon, Daimler und Bosch. Der Verbund, an dem die Universitäten Stuttgart und Tübingen sowie das Max-Planck-Institut beteiligt sind, soll die Forschung und Entwicklung intelligenter Systeme vorantreiben, sie international sichtbarer machen und so die besten Forscher in den Südwesten locken.
Nach dem Start des Forschungsverbundes Ende 2016 hieß es, dass alle Partner zusammen in einem ersten Schritt 165 Millionen Euro in das »Cyber Valley« stecken, davon kommen 7,5 Millionen Euro von den Industriepartnern. (dpa)
»Amazon ist weltgrößter Anbieter sogenannter «Cloud-Dienstleistungen» – das Unternehmen verwaltet auf seinen Servern eine Unmenge von Daten, die Unternehmen und Behörden über uns alle sammeln. Zugleich hat Amazon über Alexa in vielen Haushalten Zugriff auf private Gespräche, die protokolliert und ausgewertet werden. In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Datenpannen und unerlaubten Zugriffen der deutschen Geheimdienste. US-Geheimdienste haben schon heute Zugriff auf jegliche von Amazon erhobenen Daten«, heißt es auf der Website des Bündnisses. Kritisch sei das Engagement des amerikanischen Versandhändlers auch für eine unabhängige Wissenschaft.
Der Vorwurf auf www.nocybervalley lautet: »Weltweit beschäftigt Amazon Hunderte sogenannter «Amazon Scholars»: Wissenschaftler*innen, die an öffentlichen Instituten forschen, hieraus überwiegend finanziert werden und trotzdem zugleich im Dienste von Amazon stehen«. Auch über die Vergabe des »Amazon Research Awards« und die Förderung von aus der Forschung unmittelbar hervorgehenden Unternehmensgründungen sorge der Konzern für anwendungsnahe Forschung in seinem Sinne, eigne sich Forschungsergebnisse an und schaffe Abhängigkeiten. (GEA)