TÜBINGEN. Aus Mangel an Alternativen hat sich Julia Wahl Poledance selbst beigebracht, damals noch im Kinderzimmer ihres Elternhauses in Lorch. Nachdem sich die Handballmannschaft nach sieben Jahre auflöste, brauchte die damals 19-Jährige ein neues Hobby. Sie war schon immer sportbegeistert und hatte sich bereits in den Bereichen Ballett, Jazz, Garde, Zirkusakrobatik, Fußball und Kickboxen ausprobiert. 2009 sah Wahl einen Beitrag in den Nachrichten, in dem über eine neue Trendsportart berichtet wurde: Poledance.
Kurz darauf kaufte sie sich ihre erste Polestange über Ebay. »Die kam mit einer niederländischen Erklär-CD«, erzählt Wahl lachend. »Ich habe wenig verstanden.« Ihre erste Stange hielt nur zwei Monate. »Ich kannte mich einfach nicht aus«, gibt die Artistin zu. Doch nach der kurzen Zeit war sie schon so begeistert von der Sportart, dass sie ihr Weihnachtsgeld in eine hochwertige Stange investierte.
»Zu dem Zeitpunkt war Poledance noch total unbekannt, es gab keine Schulen, in die man gehen konnte«, erklärt Wahl. Aufgrund dessen beschloss sie eine online Trainerausbildung aus den USA abzuschließen. Ihr Wissen begann die Tänzerin dann mit anderen auf YouTube zu teilen. Sie drehte viele Videos. »Irgendwann hatte ich 60.000 Follower«, sagt Wahl kopfschüttelnd.
Wettkämpfe, EM-Qualifikation, Deutsche Meisterschaft
Der sportliche Ehrgeiz hatte die Pole-Tänzerin so gepackt, dass sie 2012 an ihrem ersten Wettkampf teilnahm. Im Jahr darauf qualifizierte sie sich für die European Polesport Championship, also die EM, 2014 wurde sie Deutsche Meisterin. Darauf folgten viele weiter Auszeichnungen. »Ich sah in Wettkämpfen eine Möglichkeit, die Sportart zu teilen«, sagt Wahl. An Negatives aus ihrer Wettkampfzeit kann sie sich nicht erinnern. Sie hat die Poledance-Community stets als liebevoll erlebt. »Alle kannten sich untereinander, es war ein sehr schönes Miteinander«, berichtet die Akrobatin.
An ein Erlebnis erinnert sie sich gerne: Bei einer deutschen Meisterschaft war sie alleine und mit Partnerin qualifiziert. »Mir ging es sehr schlecht, ich war krank und wollte eigentlich von meinem Solo zurücktreten.« Ohne ärztliches Attest wäre sie jedoch disqualifiziert worden. »Es kam eine Mutter mit ihrer siebenjährigen Tochter auf mich zu. Sie erzählte mir, dass sie gekommen waren, weil ihre Tochter unbedingt meinen Auftritt sehen wollte.« Das hat Wahl so berührt, dass sie trotz Krankheit am Wettkampf teilnahm.
Alles selbstgemacht
Für ihr Studium zog Wahl nach Tübingen. Anfangs studierte sie Mathematik. Nebenbei unterrichtete sie Poledance in ihrer Einzimmerwohnung. »Am Anfang habe ich 10er-Karten von Hand gebastelt und dann abgestempelt«, erzählt Wahl lachend. Irgendwann wurde ihr das Unterrichten in ihrer eigenen Wohnung zu viel, sie wollte eine räumliche Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Für kurze Zeit unterrichtete sie in einem Fitnessstudio in Esslingen. »Ich habe schnell gemerkt, dass es für Poledance einen eigenen Raum benötigt mit der richtigen Atmosphäre, dafür sind Fitnessstudios nicht geeignet«, sagt die Tänzerin.
Ohne Druck auf der Bühne stehen
Einmal im Jahr treten Schülerinnen und Trainerinnen der Tanzschulen gemeinsam auf. Dieses Jahr findet das Showcase am 9. November im Sudhaus in Tübingen statt. Dort kann man die Artisten bestaunen oder sogar selbst auftreten. (lina)
Mit diesem Gedanken sind auch ihre Poledancestudios eingerichtet, man soll sich wie zu Hause fühlen. Wahl weiß: »Es ist eine Hürde, ins Poledance zu kommen, man hat wenig an, es sind viele junge Menschen und es wird mit sexy-sein verbunden.« Nach der ersten Stunde seien die meisten überrascht, wie freundlich alle sind. »Keiner schaut einen wertend an.« Die Inhaberin der Polestudios würde sich wünschen, dass sich die Leute trauen. »Wo kann man da schon mit so wenig rumlaufen, ohne verurteilt zu werden? Das stärkt das Selbstbewusstsein.«
Bühne frei
Unterrichten, Kurspläne schreiben, Büroarbeit, Websitedesign - das alles hat die Tänzerin zu Beginn alleine gestemmt. Mit den Jahren konnte Julia Wahl Aufgaben abgeben. Nun hat sie ein Team aus Trainerinnen, die ihr zur Seite stehen. Anfang 2023 hat sie von über zehn unterrichteten Kursen auf drei reduziert, denn sie hat einen Plan: Sie möchte wieder mehr auftreten. Eigentlich sei die Reihenfolge: Bühne, dann Unterrichten. »Doch ich mach es andersrum«, sagt die Artistin.
»Es ist schwer, Shows und Studio unter einen Hut zu bekommen«, gibt Wahl zu. Sie möchte wieder mehr Zeit in sich selbst investieren. Bis März trat sie bereits im Friedrichsbau in Stuttgart mit der Show Masque auf. Straßenfeste, Galaveranstaltungen, Weihnachtsfeiern, Firmenevents - dafür wird sie gebucht und tritt nicht nur mit Poledance, sondern auch mit Arielhoop, Kontorsion und Partnerakrobatik auf. Ihr nächster öffentlicher Termin ist auf dem Straßenkunst Festival in Esslingen. (GEA)