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Warum eine Tübingerin wandert, bis es wehtut

100 Kilometer, 24 Stunden, zu Fuß: Extremwandern ist Trendsport. Irgendwo in Deutschland findet immer eine Tour statt, und die Fangemeinde reist hinterher. Muskelkater, Wadenkrämpfe und Fußblasen inklusive. Wie überleben Menschen den Gewaltmarsch? Und vor allem: Warum tun sie sich die Strapazen an? Eine Tübingerin ist mitgelaufen. »Stuttgart war mein krassestes Erlebnis«, sagt sie. »Jetzt weiß ich, dass ich alles schaffen kann.«

Maren Krumm (links) auf dem Annapurna in Nepal.
Maren Krumm (links) auf dem Annapurna in Nepal. Foto: Krumm
Maren Krumm (links) auf dem Annapurna in Nepal.
Foto: Krumm

TÜBINGEN/STUTTGART. 100 Kilometer, 24 Stunden, zu Fuß: Maren Krumm hat es geschafft. Die Tübingerin hat den Megamarsch bei Stuttgart absolviert. Muskelkater, Fußblasen, Schienbeinentzündung inklusive. Danach lag sie drei Tage flach. Trotzdem ist sie begeistert: »Das war das Krasseste, was ich jemals erlebt habe«, schwärmt sie. Dabei ist sie Wiederholungstäterin, kraxelte auf einen Vulkan in Lateinamerika und einen Achttausender in Asien und plant bereits die nächste Tour in München. »Extremwandern« heißt der Trendsport, wird weltweit praktiziert und hat viele Anhänger. Wie überlebt man solche Strapazen? Und vor allem: Warum tut man sich das an?

Krumms erster Riesenberg war der Acatenango. Den 4.000 Meter hohen Vulkan in Guatemala bestieg sie an einem Tag. »Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen«, erzählt sie. »Die große Höhe, der schnelle Aufstieg, das wenige Wasser.« 14 Wanderer, zwei Führer, keine Träger machten mit bei der organisierten Tour. Kalte Lava unter den Füßen, schweres Gepäck auf dem Rücken. Immer über Geröll, zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. Unten ging es los in T-Shirt und Shorts, oben endete es in Winterjacke und Wollmütze. Auf dem Gipfel Frost, Sturm, Eisregen. »Wir haben kaum geschlafen im Zelt«, berichtet Krumm. »Wir haben uns meist gewärmt am Lagerfeuer.« Aber das war die Aussicht wert. Gegenüber liegt der Fuego: ein aktiver Vulkan, der regelmäßig ausbricht. Auch damals: Rotglühende Lava schoss in nachtschwarzen Himmel, grauer Rauch kräuselte sich über kahlem Fels. Das war vor fünf Jahren und hat Krumm auf den Geschmack gebracht.

Abwechslung vom Alltag

Nepal folgte 2023. Aufstieg zum Annapurna, einem Achttausender im Himalaya und dem zehnthöchsten Berg der Erde. Wieder eine geführte Tour, diesmal fünf Wanderer, ein Führer, drei Träger. 110 Kilometer in neun Tagen. Auf steinigen Pfaden durch gelbe Gräser, vorbei an klaren Bergseen, grauen Steinhäusern und bunten Gebetsfahnen. Auf 4.000 Metern Höhe dann das Basiscamp und freie Sicht auf das Massiv ringsum: Über weißen Bergen strahlt blauer Himmel, die aufgehende Sonne taucht die Spitzen in goldenes Licht. Das ist Freiheit.

Krumm reist gern um die Welt, ist gern draußen in der Natur, bewegt sich gern und trifft gern Freunde. Das bietet Abwechslung vom Alltag. Da pendelt sie zwischen Wohnung in Tübingen und Arbeit in Reutlingen, sitzt im Büro vom Reutlinger General-Anzeiger und gestaltet Medien. Ein interessanter Beruf zwar, aber kein Abenteuer. Das sucht sie in der Freizeit. Dafür muss sie nicht nach Guatemala oder Nepal – Stuttgart tut es auch. Dort lief sie letzten Sommer 100 Kilometer in 24 Stunden. »Eine Erfahrung fürs Leben«, urteilt sie rückblickend.

Maren Krumm (links) beim 100-Kilometer-Marsch in Stuttgart.
Maren Krumm (links) beim 100-Kilometer-Marsch in Stuttgart. Foto: Sportograf
Maren Krumm (links) beim 100-Kilometer-Marsch in Stuttgart.
Foto: Sportograf

Reingerutscht ist Krumm zufällig: Eine Freundin sprang ab, sie sprang ein. Viel trainieren konnte sie nicht: 40 Kilometer laufen an einem Tag, 30 und 20 Kilometer laufen an zwei Tagen. »Um ein Gefühl für 100 Kilometer zu bekommen«, erklärt sie. Auch so treibt die 32-Jährige viel Sport, spielte zehn Jahre bei den Tübingen Hawks Softball, radelt zur Arbeit, macht zuhause Workout und wandert am Wochenende durch Schönbuch, Schwarzwald und Schwäbische Alb.

Trotzdem war der Stuttgarter Marsch eine Herausforderung. Vorbei an Bad Cannstatt, Esslingen und Ostfildern, in den Kessel und über Weinberge, bei Sommersonne und Nachtkälte. Die Handy-App zeigte: Energieverbrauch 6.000 Kalorien, Schweißverlust 10 Liter. Krumm hangelte sich von Raststation zu Raststation. Alle 20 Kilometer stellte Veranstalter »Megamarsch« Wasser und Kaffee, Schokolade und Gewürzgurken zur Verfügung. Für den Notfall standen Sanitäter bereit.

»Bei Kilometer 80 konnte mein Körper nicht mehr«, erinnert sich Krumm. Doch sie lief weiter – trotz Muskelkater in den Beinen, Blasen an den Füßen und Entzündung im Schienbein. »Damals dachte ich: Den Rest packe ich noch.« Was sie rettete? Die Freundin, die mit ihr lief und mit ihr redete. Die Eltern, die zuhause warteten und mit ihr telefonierten. Und der unbedingte Wille: Ich schaffe das. »Als ich durchs Ziel ging, lachte und weinte ich«, erzählt sie. »Vor Erleichterung und vor Erschöpfung.« 1.200 Menschen waren mit Krumm an den Start gegangen, 600 Menschen waren ins Ziel gelaufen. Das ist die übliche Quote: Die Hälfte kommt durch.

Der Kopf überwindet den Körper

Danach blieb Krumm drei Tage zuhause. »Ich humpelte umher zwischen Bett, Kühlschrank und Klo«, berichtet sie. »Als es nicht mehr ging, schluckte ich Schmerztabletten.« Familie und Freunde sagten: »Tolle Leistung. Aber warum machst du das?« Für Krumm ist die Antwort klar: »Jetzt weiß ich, dass ich alles schaffen kann.« Der Kopf überwindet den Körper. »Ich muss es nur wollen und dranbleiben.«

Krumm ist nicht die Einzige, die sich der Herausforderung stellt. Der deutsche Veranstalter »Megamarsch« mit Sitz in Mönchengladbach ist seit 2016 im Geschäft. Letztes Jahr bot er 26 Wanderungen für 40.000 Teilnehmer an. Pro Lauf sind im Schnitt 1.500 bis 2.500 Menschen dabei. Die Märsche finden deutschlandweit statt, meist in großen Städten wie Berlin, Hamburg, München oder eben Stuttgart. Es besteht die Wahl zwischen 100 Kilometern in 24 Stunden und 50 Kilometern in 12 Stunden. Die Startgebühr beträgt zum Beispiel für den 100-Kilometer-Lauf in Stuttgart zwischen 55 und 75 Euro, sie beinhaltet Proviant für die Strecke und Sanitäter für den Notfall.

Maren Krumm (rechts) auf dem Acatenango in Guatemala.
Maren Krumm (rechts) auf dem Acatenango in Guatemala. Foto: Krumm
Maren Krumm (rechts) auf dem Acatenango in Guatemala.
Foto: Krumm

Mitmachen kann jeder, der es sich zutraut. »Unser ältester Teilnehmer war 84 Jahre, unser jüngster 16«, berichtet Sabrina Putzschke vom Megamarsch-Marketing. »Aber das sind Ausnahmen. Die meisten Teilnehmer sind zwischen 35 und 55 Jahre alt.« Doch auch das sind nicht alles Sportskanonen. »Man muss nicht in Marathonform sein«, beruhigt Putzschke. »Eine gute Grundsportlichkeit reicht.« Vorbereiten sollte man sich trotzdem. »Klein anfangen, dann steigern«, rät Putzschke. »Dabei den Sitz der Schuhe und das Gewicht des Rucksacks testen.«

Die körperliche Fitness ist das eine, die mentale Fitness das andere. »Ob man es schafft, entscheidet sich vor allem im Kopf«, weiß Putzschke von »Megamarsch«. »Mammutmarsch« – seit 2013 in Berlin und der zweite große Veranstalter in Deutschland – wird auf seiner Webseite noch deutlicher: »Bei uns wanderst du, bis es wehtut. Und dann weiter«, steht dort. »Am Ende weißt du, dass dich nichts aufhalten kann.« Es geht ums Verlassen der Komfortzone und Überschreiten von Grenzen, um Willenskraft und Selbstvertrauen.

Jeder kämpft gegen sich selbst und alle miteinander

Den »inneren Schweinehund« überwinden, wie Putzschke sagt, muss keiner allein. Sie empfiehlt einen »Wanderbuddy«: »Wenn der eine ein Tief hat, motiviert der andere.« So seien Freundschaften entstanden. Das Duo ist eingebettet in die Gruppe. »Jeder kämpft gegen sich selbst und alle miteinander«, weiß Putzschke. »Das spornt an.« Mittlerweile ist die Fangemeinde groß: Wanderfreunde reisen durch die ganze Republik von einem Event zum nächsten und stechen sich Tattoos.

Das angestaubte Image hat die Bergtour abgestreift. Beim Extremwandern denkt keiner an den Alpenverein-Senior mit Seppelhut und Gamsbart. Stattdessen ist Wandern zur Challenge geworden. Zur Herausforderung für Middle-Ager, die sich selbst austesten, kennenlernen und weiterentwickeln wollen.

Krumm ist eine davon. Eine »MM«- oder »Mammut«-Tätowierung hat sie zwar nicht, die nächste Tour plant sie trotzdem. Diesmal soll es München sein. »Die Landschaft reizt mich«, sagt sie. Doch entschieden ist noch nichts. Ein Manko bleibt: »Die Schmerzen schrecken mich.« (GEA)