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Verständnis für Rechtsbruch: Hausbesetzer im Südwesten

Hausbesetzungen sind illegal - und nach wie vor praktiziertes Protestmittel. Angesichts gravierender Wohnungsnot reagieren die Kommunen mitunter eher verständnisvoll als rigide.

Das besetzte Haus in der Kaiserstraße.  FOTO: NIETHAMMER
Das besetzte Haus in der Kaiserstraße (Archivbild). FOTO: NIETHAMMER
Das besetzte Haus in der Kaiserstraße (Archivbild). FOTO: NIETHAMMER
TÜBINGEN/REUTLINGEN. Montag: Yoga. Dienstag: Rebellisches Singen mit Liedern aus der Arbeiterbewegung. Mittwoch: Doppelkopf-Stammtisch. Donnerstag: T-Shirts batiken. Freitag: Akustikkonzert. Samstag: Brunch. Sonntag: Zeichenkurs. Was nach dem Veranstaltungskalender eines soziokulturellen Zentrums klingt, ist das Abendprogramm in einem verschlissenen Haus in Tübingen. Seit Juli halten es Mitglieder der linken Szene besetzt.

Um ein klassisches Besetzerszenario, in dem Autonome und Exekutive unschöne Bilder gegenseitigen Aufeinanderprallens liefern, handelt es sich nicht. Eine Eskalation der Situation scheint unwahrscheinlich. Jan Störmer - 35, Bart, Cowboyhut, nach eigenen Angaben »arbeitsfrei« und einer der Besetzer - beschreibt letztere als harmonisch. Die Stadt beobachtet die Aktion mit Wohlwollen.

»Als Oberbürgermeister muss ich für Recht und Ordnung sorgen, deswegen kann ich eine illegale Hausbesetzung nicht gutheißen«, versichert Tübingens Rathauschef Boris Palmer (Grüne). Doch Palmer, der unter anderem mit Grundstücksenteignungen den Wohnungsmangel in seiner Stadt bekämpfen will, schiebt rasch nach: »So ein Leerstand ist nicht akzeptabel. Ich kann nachvollziehen, dass Menschen zu einem solchen Instrument greifen, auch wenn ich es nicht befürworte.«

Das Tübinger Gebäude gehört einer privaten Erbengemeinschaft. Im Erdgeschoss befand sich bis 1998 ein Haushaltswarenladen. Seit der Schließung passierte dort nichts mehr, alte Geschirrregale staubten vor sich hin. Die Stadt selbst versuchte, den Leerstand zu beenden - erfolglos. Laut Palmer griff das Zweckentfremdungsverbot nicht. »Mir sind die Hände gebunden. Der Zivilgesellschaft bleibt der Ungehorsam«, schrieb er auf Facebook.

»Wir wollen auf die Wohnungsnot in Tübingen hinweisen«, sagt Besetzerin Katja Mittelstädt (32). Die Mieten in der Stadt seien so teuer, dass selbst Menschen mit normalem Einkommen ins Umland ziehen müssten.

Wie viele Häuser in Baden-Württemberg besetzt waren oder sind, lässt sich schwer benennen. Laut Innenministerium werden solche Fälle bei einer Strafanzeige als Hausfriedensbruch geahndet, in der Polizeilichen Kriminalstatistik aber nicht gesondert erfasst.

Doch das Thema hat Konjunktur. Bei den sogenannten Squatting Days Ende Oktober in Freiburg will die Hausbesetzerszene »gegen explodierende Wohnraumpreise, Gentrifizierung und Leerstand« angehen. Das Bündnis »Die WG« hat in einem Internet-Aufruf angekündigt, sich während der Aktionstage auch »neue Räume anzueignen«. Drei Häuser hat »Die WG« nach Angaben der Stadt im Jahr 2019 in Freiburg besetzt - jeweils zwischen zwei und acht Tage lang. Die Eigentümer stellten Strafantrag, die Polizei räumte die Gebäude.

Die Tübinger Besetzer scheinen das nicht fürchten zu müssen. Über einen Makler stehen sie in Kontakt mit der Besitzerfamilie. Sofern sie unter dem Dach gelagerte Wertsachen unberührt ließen, würde diese von einer Anzeige absehen, sagt Jan Störmer. Auch Palmer hält eine polizeiliche Räumung für verzichtbar, solange es nicht zu Gewalt oder Sachbeschädigungen kommt - den Leerstand wieder herzustellen, den er selbst beheben möchte, ist so gar nicht im Sinn des Oberbürgermeisters. Die Besetzergruppe plant, das Haus zu kaufen und über die Initiative »Mietshäuser Syndikat« in ein selbstverwaltetes Wohnprojekt zu verwandeln. Die Stadt hat zugesichert, zu vermitteln.

Ziemlich zufrieden schienen alle Parteien nach dem Ende einer vierwöchigen Hausbesetzung im Frühsommer in Reutlingen. Das Kollektiv »Die Crew« hatte sich in einem leerstehenden Haus der städtischen Wohnungsgesellschaft GWG einquartiert. Ihre Forderungen: eine sozialere Wohnungspolitik, konsequentes Vorgehen gegen Leerstand. 1700 Wohnungen stehen ihren Zählungen nach im Kreis Reutlingen leer.

Eine Anzeige gab es nicht, stattdessen Gespräche. Die Stadt ließ verlauten, sie teile das Anliegen der Besetzer nach mehr bezahlbarem Wohnraum. Oberbürgermeister Thomas Keck (SPD) leierte eine systematische Leerstandserhebung an. Die GWG spricht von einem »sehr fairen Vorgehen« der Aktivisten. Die »Crew« freute sich, das Thema auf die politische Tagesordnung gebracht zu haben sowie über eine »Welle der Solidarität« - und zog aus.

Auch die Tübinger Besetzer erleben Zuspruch. Die Nachbarn freuten sich, dass in dem alten Ladengeschäft wieder was los sei. Das Erdgeschoss steht Besuchern als eine Art Café offen, ein Interieursammelsurium aus Palmen, Teppichen und Gebetsflaggen wächst. »Wir bekommen täglich Dinge geschenkt«, sagt Besetzerin Silvia Grießl (19). Bücher, Sofas, Bohrmaschine, zuletzt ein Klavier. Das Abendprogramm scheint gesichert. (dpa)