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Uniklinik holt Weltkongress Psychosomatik nach Tübingen

Vier Dekaden ist es her, dass der Weltkongress der International College of Psychosomatic Medicine (ICPM) in Deutschland abgehalten wurde. Nun ist er zum ersten Mal in Tübingen - unter der Präsidentschaft von Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen. Der Fachmann für Essstörungen warnt vor einer bedenklichen Entwicklung.

Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen, hat den
Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen, hat den Fachbereich maßgeblich mit aufgebaut. Foto: Beate Armbruster
Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Tübingen, hat den Fachbereich maßgeblich mit aufgebaut.
Foto: Beate Armbruster

TÜBINGEN. Es ist ein weiter Weg, den die Ärzte und Forscher im Bereich der Psychosomatik an der Uni Tübingen zurückgelegt haben. »Uns gibt es seit 2004, damals waren wir noch in Rottenburg untergebracht«, erinnert sich Stephan Zipfel. Vor 20 Jahren wurde Zipfel als Professor an die frisch gegründete Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie berufen, heute ist er dort Ärztlicher Direktor. Von sieben auf 130 Kollegen sei der Fachbereich mittlerweile angewachsen, erklärt der Arzt bei einem Pressetermin zum 20-jährigen Jubiläum seiner Abteilung.

Die Fachärzte und ihre Kollegen aus der Therapie und Pflege kümmern sich um die klinische Versorgung von psychisch erkrankten Menschen. »Wir haben hier eine große Expertise im Bereich der Essstörungen aufgebaut«, erklärt Zipfel. Seit 2014 leitet der Arzt zudem das Kompetenzzentrum für Essstörungen Tübingen (KOMET), das sich der Erforschung und Prävention der Krankheit widmet. »Menschen mit chronischen Schmerzen sind auch ein Spezialgebiet von uns, Stichwort Reizdarm«, ergänzt der Hochschullehrer. Allgemein arbeite man an der Schnittstelle von Krankheit und ihrer Wirkung auf die seelische Gesundheit des Menschen - wie beispielsweise bei Krebs.

500 Forscher aus 30 Ländern

Durch diese Spezialisierung und Expertise habe es die Uniklinik nun geschafft, den renommierte Weltkongress der International College of Psychosomatic Medicine (ICPM) nach Tübingen zu holen - zum ersten Mal überhaupt. »Der Kongress findet zum zweiten Mal in Deutschland statt. Das erste Mal war er in Hamburg, 1983«, sagt Zipfel, der für die kommenden zwei Jahre die Präsidentschaft des ICPM übernimmt.

Seit Donnerstag präsentieren, debattieren und vernetzen sich mehr als 500 Forscher aus rund 30 Ländern in der beschaulichen Universitätsstadt. »Für viele war Tübingen nicht ganz so leicht zu erreichen«, gibt Zipfel zu und schmunzelt. »Jetzt sind sie aber da und von unserer Stadt begeistert.« Die Universität sei sehr zuvorkommend gewesen, Gebäude und Räume für den internationalen Spezialistenkongress bereits zu stellen. »Wir haben in Tübingen ja leider kein Kongresszentrum. Und ich hatte Sorge, dass es auch nicht genug Hotelzimmer gibt.« Das habe sich aber zum Glück nicht bewahrheitet.

Unter den Gästen ist die Crème de la Crème der psychosomatischen Forschung versammelt. Konkret gehe es dieses Jahr vor allem darum, wie die globalen Krisen - Stichwörter Klima und Krieg - in den Kontext der psychischen Belastung und Behandlung einzubetten seien. »Gerade die Belastung bei Kindern und Jugendlichen steht dabei im Fokus«, erläutert Zipfel. »Einer unserer Hauptredner ist Patrick McGorry, der sich besonders mit den Risikogruppen der 15- bis 25-Jährigen befasst.« Der australische Forscher habe kürzlich einen Artikel veröffentlicht, der die Forschung und Behandlung für das kommende Jahrzehnt prägen wird.

Betroffene entwickeln Therapien mit

Der Austausch mit den ausländischen Forschern - das erhoffen sich Zipfel und seine Kollegin Katrin Giel - wird die Forschung in Deutschland und speziell in Tübingen voranbringen. »Was uns andere Länder voraus haben, ist die Zusammenarbeit mit Betroffenen als Berater«, erklärt Giel. Die Professorin leitet die Sektion der Translationalen Psychotherapieforschung. Hinter der sperrigen, akademischen Bezeichnung verbirgt sich ein Forschungsbereich, der nach neuen und ungewöhnlichen Ansätzen sucht, Menschen mit psychischen Erkrankungen zu therapieren. »Wir werden sicher viel von den Teilnehmern lernen«, sagt Giel. In Zukunft wolle man mehr Ansätze entwickeln, bei denen Betroffene aktiv die Therapie im Vorfeld mitgestalten können.

Denn Handlungsbedarf ist da. Insbesondere während der Pandemie sind erheblich mehr Patienten an Essstörungen erkrankt als davor. Zipfel spricht von einer Steigerung der Klinikaufnahmen von 60 Prozent während der Covid-Zeit. »Die Zahl fällt aber auch deswegen so hoch aus, weil andere Behandlungsoptionen wie die Ambulanz während der Lockdowns weggefallen sind«, gibt der Arzt zu bedenken. Trotzdem: »Die Entwicklung nach oben hält an.« Aktuell habe man in Tübingen mit einer jährlichen Wachstumsrate von 10 bis 15 Prozent mehr Klinikaufenthalten wegen Essstörungen zu rechnen.

Sich bei der Suche nach den Ursachen allerdings nur auf einen Faktor wie die Pandemie zu stützen, führe aber nicht zu brauchbaren Behandlungsansätzen. Fast immer gebe es Begleiterkrankungen. »In der Hälfte der Fälle geht eine Essstörung mit einer Depression oder Angststörung einher«, weiß Zipfel. Auch haben langjährig Erkrankte mit körperlichen Folgen einer Unter- oder Überernährung zu kämpfen. Das Krankheitsbild ist komplex und hat die höchste Sterberate der psychischen Erkrankungen.

Bislang kann die Psychosomatische Abteilung der Uniklinik 26 stationäre Patienten gleichzeitig versorgen. »Wir sind aber in Verhandlungen mit der Landesregierung, um sechs zusätzliche Betten zu bekommen«, sagt Zipfel. Im neuen Klinikgebäude der Osianderstraße 5 konnten diese Betten allerdings noch nicht mit eingeplant werden. Auf drei hellen und freundlichen Stockwerken werden voraussichtlich ab Januar die 26 Patienten versorgt, die momentan noch bei den Kliniken Berg angesiedelt sind - mit Musiktherapie-Zimmer und einer speziellen Lernküche für Menschen mit Essstörungen. Zusätzlich wird es drei Plätze für sogenannte Step-Down-Patienten geben, die durch die gewohnten Therapieangebote und Therapeuten von ihrem stationären Aufenthalt entwöhnt werden. Durch den Neubau rücken Ambulanz, die bereits in der Osianderstraße angesiedelt ist, und stationäre Behandlung noch enger zusammen. (GEA)