TÜBINGEN. Schweren Vorwürfen sieht sich ein Tübinger Psychiater, der 2020 gerade in der Facharztausbildung war, ausgesetzt. Er soll in der Tübinger Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mit einer seiner Patientinnen über mehrere Monate hinweg eine sexuelle Beziehung unterhalten haben. Auch der Vorwurf der Vergewaltigung steht im Raum. Seit Dienstag muss sich der 61-jährige Arzt vor dem Tübinger Amtsgericht verantworten.
Was den Fall so schlimm macht: Die junge Frau leidet seit Jahren an einer schweren Persönlichkeitsstörung mit histrionischen und emotional instabilen Zügen, wohl auch als Folge eines Kindheitstraumas. Deshalb war sie immer wieder in Behandlung, auch in der Uni-Klinik in Tübingen. Im Juli 2020 suchte sie dort erneut Hilfe. Nach eigener Aussage lernte sie in dieser Zeit den 61-Jährigen angehenden Facharzt kennen, der ihr offenbar versprach, sich um ihre psychischen Probleme zu kümmern.
Nach einem kurzen stationären Aufenthalt folgte die Nachsorge. Danach hat sich dann der 61-jährige verheiratete Angeklagte um die Patientin gekümmert. Er lud sie auch zu sich nach Hause ein. Anfang Oktober kam es dann erstmals zum Geschlechtsverkehr, den die Frau nach ihrer Aussage aber nicht gewollt habe. Sie habe sich aber nicht gewehrt, weil sie Angst gehabt habe, dass der 61-Jährige die Therapie abbrechen werde.
Die sexuelle Beziehung soll bis Juni 2021 angedauert haben. Nach den Schilderungen der Frau kam es bei den Treffen wohl regelmäßig zum Geschlechtsverkehr, entweder in der Wohnung des Mannes oder in seinem Arztzimmer in der Uniklinik.
Am Dienstag kam der Angeklagte vermummt in den Gerichtssaal. Er trug eine Kapuzenjacke, eine spiegelnde Sonnenbrille, einen Mundschutz und einen Schal um die Kinnpartie. Er wollte damit verhindern, dass sein Gesicht fotografiert wird. Der erste Verhandlungstag dauerte über acht Stunden. Fast die ganze Zeit saß der Angeklagte auf seinem Platz, schaute nach unten und schrieb jedes Wort, dass im Prozess gesprochen wurde, in ein Notizbuch.
Zu den Vorwürfen wollte er sich detailliert noch nicht äußern. Seine Verteidigerin Birgit Scheja gab allerdings eine Erklärung für ihn ab. Darin gestand der 61-Jährige die sexuelle Beziehung ein. Er habe die Frau aber als selbstbestimmt wahrgenommen und der sexuelle Verkehr sei immer einvernehmlich geschehen.
Es habe sich um keine Therapie, sondern um ein privates Verhältnis gehandelt. Zu keinem Zeitpunkt habe es einen gewaltsamen sexuellen Übergriff von ihm gegeben, so der Angeklagte in der Erklärung.
Danach hörte das Schöffengericht die betroffene Frau. Sie berichtete, dass sie sich damals sehr gefreut habe, dass jemand sich endlich ausführlich therapeutisch um sie kümmern wollte. Vor Gericht wirkte sie sehr verängstigt. Fast bei jedem Geräusch im Saal schreckte sie zusammen. Häufig weinte sie bei ihren Schilderungen. Ihre Vernehmung dauerte den ganzen Vormittag.
In dem Prozess geht nun um die Frage, war die Frau zum Zeitpunkt der sexuellen Kontakte noch in therapeutischer Behandlung bei dem angehenden Facharzt oder war die Therapie bereits beendet und es handelte sich um private, sexuelle Kontakte? Dies ist noch nicht eindeutig geklärt, denn in den Unterlagen der Uni-Klinik gibt es nach August 2020 keine Dokumentation über therapeutische Sitzungen des 61-Jährigen mit der betroffenen Frau.
Eine Oberärztin erzählte am Dienstag dem Gericht aber, dass sie dies bemerkt und den 61-Jährigen auf die fehlende Dokumentation angesprochen habe. Als Antwort habe sie erhalten, dass er das noch nachholen werde, was aber bis heute nicht geschehen ist. Die Oberärztin hat die Frau immer wieder in der Klinik vor dem Arztzimmer des 61-Jährigen sitzen sehen. Deshalb war sie auch davon ausgegangen, dass ihr Kollege die Frau noch behandle.
Mehrere Ärzte der Tübinger Psychiatrie hatten dem 61-Jährigen offenbar im Sommer 2020 abgeraten, als angehender Facharzt der Frau eine Therapie anzubieten, weil es sich bei der Patientin um ein sehr schwieriges und komplexes Krankheitsbild handle.
Geschahen die sexuellen Kontakte nun während der Therapie, dann waren sie nach dem Gesetz strafbar. Hatten sie reinen privaten Charakter ohne therapeutischen Hintergrund, waren sie es nicht. Dass solche sexuellen Kontakte zwischen Therapeuten und Patientin in jedem Fall moralisch verwerflich sind, machte der Ärztliche Direktor der Tübinger Psychiatrie, Andreas Fallgatter, am Dienstag vor Gericht deutlich. So ein Verhältnis sei katastrophal. Er sei zutiefst erschüttert gewesen. Er musste auch die Kritik hinnehmen, dass niemand in der Klinik von dem Verhältnis zwischen Therapeuten und Patientin etwas mitbekommen habe. (GEA)
Im Gerichtssaal
Richter: Benjamin Kehrer. Schöffen: Marco-Jan Götz, Stefan Schmeckenbecher. Staatsanwalt: Markus Wagner. Verteidigerin Birgit Scheja. Nebenklagevertreter: Christian Laue. Gutachterin: Ursula Gasch.