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Tübinger »Münze 13«: Wo der erste Punker wohnte

Über die Bedeutung von Wohnprojekten für die Stadtgesellschaft am Beispiel der Tübinger »Münze 13«

Im Mai vor 40 Jahren haben Wolfgang Carl und Katrin Monauni den Blauen Salon in der Münze 13 ins Leben gerufen. Die Hausbar ist
Im Mai vor 40 Jahren haben Wolfgang Carl und Katrin Monauni den Blauen Salon in der Münze 13 ins Leben gerufen. Die Hausbar ist nach wie vor sehr beliebt. FOTOS: STÖHR
Im Mai vor 40 Jahren haben Wolfgang Carl und Katrin Monauni den Blauen Salon in der Münze 13 ins Leben gerufen. Die Hausbar ist nach wie vor sehr beliebt. FOTOS: STÖHR

TÜBINGEN. »Die ganze Stadt war mein Wohnzimmer«, erinnert sich Katrin Monauni an ihre Zeit in der Münze 13. Von 1980 bis 1988 hat sie in dem mittlerweile denkmalgeschützten Studentenwohnheim gelebt und gegenüber am Erziehungswissenschaftlichen Institut studiert. »Wir waren etwas Besonderes«, ergänzt ihr Mitbewohner von 1983 bis 1989 Wolfgang Carl. Dass das Haus als Gemeinschaftsprojekt weiter besteht, ist beiden sehr wichtig.

Und das nicht nur, weil sie ihre Diplomarbeit über das Haus an der Münzgasse 13 geschrieben. Die beiden haben dort auch im Mai vor 40 Jahren den Blauen Salon gegründet. »Es ist ein bisschen plüschiger als damals«, stellt Monauni fest, als sie nach etlichen Jahren die Hausbar der Münze 13 wieder einmal betritt, und freut sich, dass die Karikatur von Helmut Kohl und Franz-Josef Strauß in Öl auf Leinwand noch an der Wand hängt. »Die hat damals 400 Mark gekostet«, erzählt Monauni. In den Räumen, in denen sich zuvor Obdachlose eingerichtet hatten, organisierten die jungen Leute fortan kulturelle Veranstaltungen wie Konzerte, Vorträge und Ausstellungen bei freiem Eintritt. Legendär sei das jährliche Martinigans-Essen gewesen, sagt Carl.

Damals wie heute ist die Bar, in der auch Gäste willkommen sind, trotz ihrer konkurrenzlos niedrigen Getränkepreise keine Konkurrenz zu den umliegenden Kneipen. Der Blaue Salon habe zwar das meiste Bier in Tübingen verkauft, bediente aber eine ganz andere Klientel, erklärt Carl. Er war und ist eher ein Treffpunkt für die Tübinger Subkultur. »Leute, die in anderen Kneipen vielleicht nicht so gern gesehen wurden«, ergänzt Monauni. Der erste Punker Tübingens habe beispielsweise in der Münze gewohnt.

»Viele können sich das Wohnen in Tübingen nicht mehr leisten«

Das Leben in einer Gemeinschaft hat die beiden ehemaligen Münze-Bewohner geprägt. Sie waren als Diplom-Pädagogen beruflich in der Jugendarbeit im Kreis Böblingen tätig, blieben aber in Tübingen wohnen und haben ihre späteren Domizile über Baugruppen errichtet. Das Leben in der Münze sei außerdem die beste Vorbereitungszeit für die berufliche Orientierung gewesen, beteuert Carl. Als er auf die 30 zuging, habe er sich aber eine Alternative suchen müssen. »Es wurde richtig anstrengend mit Leuten unterschiedlichster subkultureller Stilrichtungen, die alles infrage stellen.«

Um die Bedeutung von Wohnprojekten für die Stadtgesellschaft ging es dann auch am Montag bei einer Infoveranstaltung im Institut für Erziehungswissenschaften. Als Praxisbeispiel dienten nach einer Einführung aus stadt- und raumsoziologischer Perspektive sowie einer Vorstellung des Mietshäuser Syndikats die Münze und die Erfahrungen ihrer Bewohner. Bei veganen und glutenfreien Snacks wurden anschließend etliche Erinnerungen geteilt.

In Tübingen wohnen mehrere Tausend Menschen in gemeinschaftlichen Strukturen von Baugruppen bis Wohnprojekten, Das ist angesichts der Stadtgröße eine beachtliche Zahl, sagte Barbara Stauber, Professorin am Institut für Erziehungswissenschaft der Uni Tübingen. Wohnen ist ein Gemeingut und keine Ware, betonte sie. Was passiert, wenn Wohnraum zur Kapitalanlage wird, würde man auch in Tübingen sehen: »Der Wohnungsmarkt ist explodiert, die Mieten sind durch die Decke gegangen. Viele können sich das Wohnen hier nicht mehr leisten.«

MIETSHÄUSER SYNDIKAT

Das Mietshäuser Syndikat ist eine in Deutschland kooperativ und nicht-kommerziell organisierte Beteiligungsgesellschaft zum gemeinschaftlichen Erwerb von Häusern, die in Kollektiveigentum überführt werden, um langfristig bezahlbare Wohnungen (sieben Euro pro Quadratmeter Kaltmiete) und Raum für Initiativen zu schaffen. Es wurde 1999 in Freiburg gegründet. 2001 kam mit der Tübinger Schellingstraße das erste Projekt außerhalb von Freiburg dazu. Mittlerweile gibt es deutschlandweit 184 Projekte mit rund 5 000 Bewohnern und einem Gesamtvolumen von 220 Millionen Euro. (GEA)

Um neue Eigentums- und Finanzierungsprojekte zu schaffen, müssten Flächen und Gebäude dem Markt entzogen und zu Gemeinschaftseinrichtungen umgewandelt werden. Im Vordergrund stehe dabei das solidarische Miteinander in sozialen Bildungsräumen. »Ein superspannendes Feld für Sozialpädagogen«, so Schauber.

Sie habe über ihre Zeit in der Münze ihre Leidenschaft für Stadtentwicklung entdeckt, verriet Marie Graef vom Institut für Sozialwissenschaften an der Stuttgarter Uni. Sie erläuterte den Nutzen von Wohnprojekten. Fünf bis zehn Prozent der Tübinger Bevölkerung wohnen gemeinschaftlich in einer Vielfalt an Wohnprojekten, die alle einige Aspekte gemeinsam haben: Sie sind selbstverwaltet sowie basisdemokratisch und nicht-kommerziell, erläuterte Graef.

Die Bewohner des Eckhauses gegenüber der Stiftskirche versuchen seit 2016 über den mittlerweile gegründeten Verein »Münze 13« aus dem selbstverwalteten Wohnheim ein eigenständiges Projekt zumachen und das Haus zu kaufen (der GEA berichtete). Konkret wurde es 2020 durch die ersten Verhandlungen mit dem Studierendenwerk Stuttgart-Hohenheim, dem das Gebäude gehört, und dem Land als Eigentümerin des Grundstücks.

Zu den Zeiten von Monauni und Carl lebten in der Münze über 30 Leute auf drei Stockwerken. Die Zimmer waren damals allerdings kleiner, erinnert sich Carl. Und die Männer, die in den 1980er-Jahren in der Überzahl waren, hatten in der Regel die besseren Räume. Das sei heute nicht mehr so, versichern die derzeitigen Bewohner. Der Anteil der Geschlechter ist seit einigen Jahren ausgewogen.

Haus und Bewohner, von denen 50 Prozent Studenten oder Auszubildende sind, befinden sich aber immer noch in ständigem Wandel. Heute leben dort 22 Menschen in 21 Zimmern von 16 bis 30 Quadratmetern Größe in einer Art gut organisierter Wahlfamilie zusammen. Kinder gibt es keine. Es sei durchaus sinnvoll, dass es Projekte gibt, die nicht auf Familien ausgerichtet sind, meint Noah. Es gibt einen gemeinsamen Vorrat an Lebensmitteln, Entscheidungen werden in Arbeitsgruppen vorberaten und dann mehrheitlich gefällt. Die Aufenthaltsdauer liegt im Schnitt bei sieben bis acht Jahren bei jährlich zwei bis drei Wechseln. (GEA)