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Tübinger Forscher: Menschen in Pflegeheimen haben viel zu wenig Bewegung

Forscher der Uni Tübingen suchen nach Möglichkeiten, wie sich das Leben in Altenheimen verbessern lässt.

Den Boden unter den Füßen fühlen – das geht auf einem Barfußpfad. FOTOS: FÖRDER
Den Boden unter den Füßen fühlen – das geht auf einem Barfußpfad. Foto: Philipp Förder
Den Boden unter den Füßen fühlen – das geht auf einem Barfußpfad.
Foto: Philipp Förder

TÜBINGEN/KIRCHENTELLINSFURT. Es geht langsam voran. Schritt für Schritt für Schritt. Aber es geht. Mit der rechten Hand hält sich Mina Kleeblatt am Geländer, links führt Mandy Leitenberger die 88-Jährige über den Barfußpfad im Garten des Kirchentellinsfurter Martinshauses. Der grobe Schotter, die kleinen Kiesel, die kratzigen Holzschnitzel, der feine Sand – ob es stupft oder den Sohlen schmeichelt, Mina Kleeblatt hat immer einen Kommentar zu dem Gefühl, das die Füße ihr gerade vermitteln und sichtlich Spaß daran, die Welt unter ihr zu ertasten.

»Der Barfußpfad, das war unsere Idee«, erzählt Elisabeth Armbruster, die Leiterin des Martinshauses. Eine Idee von vielen in dem Projekt der Universität Tübingen, das kurz »BaSAlt« heißt, aber auch einen langen Namen hat: »Verhältnisorientierte Bewegungsförderung und individuelle Bewegungsberatung im Setting ›Altenwohnheim‹ – ein biopsychosoziales Analyse- und Beratungsprojekt«.

»Wir haben Strategien, die sie schützen, aber die machen auch krank«

Klingt wissenschaftlich kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: Es geht darum, Strategien der Bewegungsförderung für Alteneinrichtungen zu entwickeln und diese dort auch im Alltag zu verankern.

Das ist dringend notwendig, findet Ansgar Thiel. Für den Tübinger Sportwissenschaftler, der neben Sport noch Psychologie und Psychogerontologie studiert hat, ist die gegenwärtige Situation erschreckend. Von den 60- bis 69-Jährigen erreichen in Deutschland nur 16,8 Prozent der Frauen und 19,3 Prozent der Männer einen Umfang körperlicher Aktivität entsprechend der WHO-Bewegungsempfehlungen. Bei den 70- bis 79-Jährigen sind es nur noch 11 Prozent der Frauen und 16,5 Prozent der Männer. Dabei würde Bewegung auch kognitiv mehr bringen als nur dazusitzen und Kreuzworträtsel zu lösen. »Wir sehen Menschen in Pflegeheimen als Schutzbedürftige. Wir haben Strategien, die sie schützen, aber die machen auch krank.«

Der Tübinger Sportwissenschaftler Ansgar Thiel.
Der Tübinger Sportwissenschaftler Ansgar Thiel. Foto: Philipp Förder
Der Tübinger Sportwissenschaftler Ansgar Thiel.
Foto: Philipp Förder

Unbefriedigend ist für Thiel der Stand der Forschung und das in doppelter Hinsicht. Es gibt, sagt er, Forschung zur Situation in Alteneinrichtungen, aber kaum zu Bewegung in den Heimen. Viele Untersuchungen seien zudem auf eine Fachrichtung begrenzt, entweder medizinisch, psychologisch oder sportwissenschaftlich. Was fehlt, ist die ganzheitliche Betrachtung. »Dabei«, ist der Professor überzeugt, »ist Bewegung das kostengünstigste und effektivste Mittel, um das, was an Anforderungen in der Pflege auf uns zukommt, zu bewältigen. In diese Richtung müssen wir denken. Allein mit passiver Pflege werden wir das nicht in den Griff kriegen.«

Deshalb hat sich Tübingen für das Programm »Bewegung und Bewegungsförderungsforschung« des Bundesgesundheitsministeriums beworben und als eines von bundesweit acht Projekten den Zuschlag erhalten. Der Tübinger Ansatz ist aus Sicht von Thiel etwas Besonderes in der Forschungslandschaft: Er ist multidisziplinär, partizipativ und praxisorientiert. Multidisziplinär, weil neben der Sportwissenschaft auch die Medizin, die Sportmedizin und die Gerontopsychiatrie beteiligt sind. Partizipativ, weil von Anfang an Praktiker aus Pflegeeinrichtungen – sieben in der Region haben mitgemacht – dabei waren. Und praxisorientiert, weil am Ende nicht nur wissenschaftliche Veröffentlichungen stehen werden, sondern auch eine Broschüre, die allen, die in der Pflege arbeiten, Anregungen für den Alltag geben soll.

Drei Jahre hat das Projekt gedauert. Im Juni geht es zu Ende. Zum großen Bedauern des Teams aus dem Martinshaus. »Es war superspannend. Wenn es weitergehen würde, wäre ich sofort wieder dabei«, sagt Pflegedienstleiterin Mandy Leitenberger. Und ihre Kollegin Katja Mische ergänzt: »Wir haben viele neue Ideen erhalten. Für mich hat sich der Blickwinkel auf das Thema Bewegung verändert.«

»Man geht zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Kaffeetrinken und zum Abendessen«

Dabei war klar, dass die sieben beteiligten Einrichtungen – allein fünf kamen vom Träger Die Zieglerschen – nicht nur Positives hören würden. »Die Einrichtungen sind ein sehr inaktiver Lebensraum«, beschreibt Ansgar Thiel, der Sprecher des Projekts, ein Ergebnis der Bestandsaufnahme. »Man geht zum Frühstück, zum Mittagessen, zum Kaffeetrinken und zum Abendessen. Das ist oft die einzige Bewegung. Und dann gibt es noch Bewegung am Freitagnachmittag, wenn Besuch kommt.« 84 Prozent der Bewohner seien den ganzen Tag inaktiv, während Corona waren es sogar 91 Prozent. »Fast drei Viertel der Bewohner bleiben unter 3 000 Schritten am Tag. Da verbraucht man nicht viel mehr Energie als beim Sitzen.«

Das liegt aber nicht an der Unwilligkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. »Sie haben einen schwierigen Job und arbeiten auch unter bestimmten Zwängen«, weiß der Wissenschaftler. Deshalb wurden bei »BaSAlt« auch die Strukturen der Einrichtungen untersucht, was etwa in rein medizinischen Untersuchungen oft ausgeblendet wird. Durch was ist die Lebenswelt in den Einrichtungen charakterisiert? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es überhaupt für die Bewohner? Und wie kann Bewegungsförderung in den Arbeitsstrukturen der Heime verankert werden?

»Wir haben uns überlegt, ob wir das personell stemmen können«

Auf der Suche nach Antworten haben die Forscher viele unterschiedliche Methoden eingesetzt. Sie haben Dokumente ausgewertet, Interviews geführt, Workshops mit Pflegekräften abgehalten. Studierende waren wochenlang in den Heimen, um zu beobachten, wie Bewegung dort stattfindet. Gemessen wurden etwa die Handkraft, die Ganggeschwindigkeit und die Bioimpedanz, also die Körperzusammensetzung, bei der Werte wie Körperzellmasse, Wasser und Fett ermittelt werden. 63 Bewohner wurden über einen längeren Zeitraum mit Aktivitätssensoren ausgestattet, und über spezielle Teppiche wurden über den Fußabdruck Bewegungsmuster erfasst.

BASALT

Das Forschungsprojekt »BaSAlt« der Uni Tübingen zielt darauf ab, Menschen in Alteneinrichtungen mit mehr Bewegung zu fördern. Beteiligt waren sieben Einrichtungen: das Gustav-Schwab-Stift Gomaringen, das Karolinenstift Tübingen, das Martinhaus Kirchentellinsfurt, das Seniorenzentrum Haus der Mitte Wannweil, das Seniorenzentrum Im Dorf Bempflingen, das Pflegewohnhaus Nehren und das Christiane-von-Kölle-Stift Tübingen. Informationen zu dem Projekt und erste praktische Anleitungen gibt es im Internet. (pp) www.uni-tuebingen.de/basalt

Ein gravierender Einschnitt kam mit Corona, als niemand mehr von außen die Heime betreten durfte, auch die Forscher nicht. In dieser Zeit wurden Mandy Leitenberger und Katja Mische geschult, um die Messungen vornehmen zu können. Das alles hat es nicht einfacher gemacht. »Wir haben uns überlegt, ob wir das personell stemmen können«, erzählt Leitenberger. Aber schnell war klar: »Wir können davon nur profitieren. Für unsere Bewohner ist es gut, wenn wir ihre Mobilität erhalten können. Und für unsere Rücken auch.«

Ansgar Thiel ist voll des Lobes für die Mitarbeiter der beteiligten Einrichtungen: »Sie waren hoch motiviert und haben wahnsinnig viele Erfahrungen eingebracht. Unser Eindruck war: Sie haben darauf gebrannt, die Situation in den Heimen und für die Bewohner zu verbessern.«

In Workshops sammelten Wissenschaftler und Praktiker Ideen. Der Barfußpfad im Martinshaus, dessen Anlage über »BaSAlt« finanziell unterstützt wurde, war dabei eine der größeren Maßnahmen. Wichtig war aber aus Sicht von Mandy Leitenberger auch etwas anderes: »Wir müssen Bewegung viel mehr in die Grundpflege integrieren.« Das kann bedeuten, beim Aufstehen nicht gleich auf technische Hilfsmittel zurückzugreifen oder gleich mit dem Rollstuhl zu kommen.

Spannend findet die Pflegedienstleiterin etwa das Zwei-Schritte-Programm, das die Kolleginnen aus Wannweil eingebracht haben. Dabei werden Bewohner mit dem Rollstuhl nicht mehr ganz zur Toilette gefahren – die letzten zwei Schritte müssen sie mithilfe einer Pflegekraft selbst machen. Und wenn das geht, dann endet die Rollstuhlfahrt drei Schritte oder noch weiter vor der Toilette.

»Es war einfach wichtig, den Blickwinkel zu verändern und zu schauen, was in unserem Zeitkorridor möglich ist. Da hat die Beobachtung von außen sehr geholfen. Man wird ja schnell betriebsblind«, findet Elisabeth Armbruster. Diese Erfahrung, bestätigt Jacqueline de Riese von den Zieglerschen, haben die anderen Einrichtungen auch gemacht.

»Man kann vieles in den Alltag integrieren, das ist nicht mehr Zeitaufwand«

Rückmeldungen aus der Praxis sind aus Sicht von Ansgar Thiel ermutigend: »Von den Maßnahmen, die wir gemeinsam ausgetüftelt haben, werden mehr als drei Viertel als erfolgreicher oder mindestens so erfolgreich wie erwartet bewertet.« Jetzt kommt es darauf an, die Förderung von Bewegung in den Einrichtungen, bei den Mitarbeitern und in der Ausbildung von Pflegekräften zu verankern.

Für Mandy Leitenberger ist das Ergebnis eindeutig: »Mir hat das Projekt sehr viel gebracht. Man braucht nicht jeden Tag zehn Minuten Zeit extra für Bewegung. Man kann vieles in den Alltag integrieren, das ist nicht mehr Zeitaufwand. Bei mir hat es Klick gemacht.« (GEA)