TÜBINGEN. Die Pandemie, der Krieg oder die Klimakrise: Tagtäglich werden wir mit Unsicherheiten und Problemen konfrontiert. Überforderung, Stress und Angst sind die Folgen. Die psychische Belastung steigt. Und das nicht nur bei Erwachsenen: Auch Kinder und Jugendliche bleiben nicht verschont.
»In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der psychisch kranken Kinder stark angestiegen«, sagt Dr. Gottfried Maria Barth, stellvertretender Ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) des Universitätsklinikums Tübingen. Zwei mögliche Gründe dafür: »Psychische Erkrankungen können heute viel schneller entdeckt werden, treten aber durch unsere mediale und schnelllebige Welt auch häufiger auf.«
Die am häufigsten auftretenden psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind Depressionen und Essstörungen. »Vor allem anhaltende Hoffnungslosigkeit und ein vermindertes Selbstbild sind es, die Depressionen schüren und im Fall von Essstörungen meist der zwanghafte Versuch etwas unter Kontrolle zu behalten«, so Barth.
Eine wichtige Rolle, wenn es um die psychische Belastung bei Kindern und Jugendlichen geht, spielen unter anderem auch die Medien. »Sie sind Licht und Schatten zugleich«, meint Barth. »Wir werden mit allem konfrontiert und das teils sehr ungefiltert. Einerseits gut und andererseits aber auch negativ.« Kinder und Jugendliche könnten hochsensiblen Inhalten im Netz begegnen. Aber wie bewältigen sie das Gesehene?
»Es ist nicht schlimm, wenn nicht immer alles so klappt, wieman es sich vorstellt«
Unbewältigtes zeigt sich sehr unterschiedlich: »Mädchen entwickeln meist nach innen gerichtete Störungen. Bei Jungs sind es eher Aggressionen«, erklärt Barth. »Trotzdem dürfen wir nicht vergessen, dass jeder Mensch anders ist.« Heutzutage sind psychische Erkrankungen nicht mehr so stigmatisiert wie noch vor zehn Jahren, »sie werden aber aufgrund ihrer Unsichtbarkeit dennoch zu häufig belächelt«. Oder erst gar nicht erkannt: »Gerade in jungen Jahren ist es schwer zu unterscheiden, was zur Pubertät gehört und was depressiver Rückzug ist.«
Eltern mit psychisch kranken Kindern stellen sich oft die Frage: Haben wir etwas falsch gemacht? Tragen wir die Schuld? Die Antwort in 98 Prozent der Fällen: nein. »Wir verwenden niemals das Wort Schuld und kommunizieren den Eltern, dass sie nichts falsch gemacht haben«, so Barth. »Meistens können wir gar nicht herausfinden, warum die Erkrankung da ist. Gerade in der kindlichen und jugendlichen Entwicklung hat so vieles Einfluss auf die Seele.« Eltern und Betroffene sollten sich daher eher die zukunftsorientierte Frage stellen: Was können wir nun tun, um unser Kind bei der Genesung zu unterstützen? »Gerade wenn die Kinder therapiert werden, ist eine gute Kooperation mit den Eltern sehr wichtig.«
Aber was kann getan werden, damit es erst gar nicht zur psychischen Erkrankung kommt? Wie kann vorgebeugt werden? »Es ist vollkommen normal, dass Eltern in der Pubertät nicht immer die ersten Ansprechpartner bei Problemen sind«, so Barth. Eltern würden aber in der Entwicklung trotzdem eine sehr prägende Rolle spielen.
»Wichtig ist es trotzdem die Atmosphäre zu schaffen, immer als Ansprechpartner da zu sein.« Aber wie kann das erreicht werden? Zunächst ist es zentral Kindern das Gefühl zu geben, wichtig zu sein und sie ernst zu nehmen. »Offenheit, Ehrlichkeit und Vertrauen sind eine grundlegende Basis für solch eine familiäre Atmosphäre.« Die Erziehung sollte keiner Agenda folgen, sondern situativ angepasst werden. »Konflikte zwischen Kindern und ihren Eltern gehören zum Erwachsen werden dazu, das darf keiner vergessen. Und es ist nicht schlimm, wenn nicht immer alles so klappt, wie man es sich vorstellt.«
Wichtig sei es außerdem, auf die Ausdrucksweise der Kinder zu hören. »Allgemein sollten wir uns weg von negativen Affekten der Sprache hin zu Ich-Botschaften bewegen.« Positives soll und kann gerne direkt angesprochen und hervorgehoben werden. Das bedeutet aber nicht, dass Negatives nicht angegangen werden sollte – wenn, dann aber möglichst konstruktiv und nicht anklagend. »Die Sprache und vor allem das Formulieren von Dingen hat eine therapeutische Wirkung.«
RAT UND TAT
Familien, die Unterstützung benötigen, können sich je nach Einzugsgebiet an das Jugend- und Familienberatungszentrum in Tübingen, Bismarckstraße 110, an das in Mössingen, Bahnhofstraße 5, oder das in Rottenburg, Obere Gasse 31, wenden. (bin) www.kreis-tuebingen.de /jugend-+und+ familienberatungszentren.html
Das Kind soll so gesehen werden, wie es ist. Eltern sollten hellhörig sein und »lieber einmal zu viel« und vor allem früh intervenieren, wenn ihnen etwas komisch vorkommt. »Keiner wird einem den Kopf abreißen, wenn zu oft Unterstützung angeboten wird«, so Barth. Im Gegenteil: Es könnte sogar sehr positiv erscheinen, weil die Eltern so unter anderem »das Interesse an dem Kind, was es tut und wie es sich fühlt« zeigen.
Psychische Erkrankungen vorbeugen können also die passende Atmosphäre zu Hause, die Offenheit der Eltern und eine angepasste Sprache. Barth nennt jedoch ein großes Aber: »Das kann alles nur klappen, wenn die Eltern auch auf sich gucken und sich selbst Freiraum schaffen.« Das kann beispielsweise durch ein Hobby oder der Begegnung mit Freunden erreicht werden. »Vor allem aber auch Sport und Musizieren haben eine sehr gute Auswirkung auf die Psyche.«
Ein wichtiger Punkt dürfe aber nicht unbeachtet bleiben: »Egal wie gut die Atmosphäre ist, Kinder haben oft auch einfach Angst, die eigenen Eltern mit ihren Problemen zu belasten«, so Barth. Gerade deshalb würde er sich auch wünschen, dass beispielsweise Beratungsangebote in Schulen eingeführt oder besser ausgebaut werden. »Das ist ein super niederschwelliges Angebot und könnte wirklich von Kindern oder Jugendlichen genutzt werden.«
»Was zusätzlich nicht vergessen werden darf: der Umgang mit den anderen, gesunden Kindern.« Meistens liegt der Fokus der Eltern auf dem erkrankten Kind. Aber auch die Geschwister sind von der Symptomatik belastete.
»Keiner darf und sollte sich scheuen, nach Hilfe zu fragen. Das ist immerin Ordnung«
»Hier rate ich allen frühzeitig auch auf die Geschwister einzugehen und beispielsweise eine Aktivität nur mit ihm oder ihr zu planen«, so Barth. Das offene und ehrliche Klima sollte weiterhin aufrechterhalten werden und die Eltern als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
Eine passende Atmosphäre, die offene Kommunikation und die gegenseitige ehrliche Achtung können also gegen die Unsicherheiten der heutigen Welt ankommen und psychischen Erkrankungen vorbeugen. Barth weiß: »Es kann jeden treffen, egal in welchem Alter und es gibt immer Wege raus aus einer psychischen Erkrankung. Aber dazu braucht es eine wirksame Behandlung. Keiner darf und sollte sich scheuen, nach Hilfe zu fragen. Das ist immer in Ordnung.« (GEA)